ot: ich will euch mal was fragen...
ich leg heute mal mit dem "vorwort" und dem 1. kapitel los und wenn ihr intersse habt, dann stell ich jeden tag ein kapitel ein :-)
mich würden auch eure meinungen interessieren. kritik ist immer willkommen.
lg michaela
Episoden
Der Jahrgang 1930/1931
lebte in drei Gesellschaftsordnungen
1' Erklärung
2' Sonntags-, Glücks-, religiöses Kind oder Bastard
3' Kindheitsbilder
4' Kriegserfahrungen
5' Kein Krieg ohne Folgen
6' Lehrling - pubertierender Friedenskämpfer - Kommunist
7' Demokrat, Bourgeois, Kapitalist und Rentner
Erzählt von Gülu Bade, 2003
1' Erklärung
Vorwort? Wer liest ein Vorwort? Ich nicht. Deshalb sage ich "Erklärung".
Heute schreibt jeder, der auf sich hält, ein Buch. Politiker, besonders gescheite(rte), schreiben, wie sie es besser machen würden, machen können, machen wollen. First Ladys schreiben Kochbücher mit Omas Rezepten, um zu beweisen, dass sie kochen lernten und wie man mit Knoblauch den besten Hummer verdirbt. Aber wie wenige essen heute Hummer?
Diese Schreiber finden alle einen Verleger. Ein einfacher Mensch schreibt seine Lebensgeschichte. Warum nicht auch du vom Jahrgang 1930/1931? Du hast so viel erlebt, dass es in keine verschönte Biographie passt. Wir hatten auch keine Zeit, Tagebuch zu führen.
Deshalb schreibe ich mein Leben aus Erinnerungen, Erlebnissen und Gedanken nieder, ohne Anspruch auf Chronologie, historische Daten- genauigkeit und Ortsbezeichnungen. Jeder soll sich selbst erinnern, wann, wo und wie er gelebt hat. Außerdem verzichte ich auf geschichtliche Belege.
Zur Jahrtausendwende 1999/2000 rief ein Verlag zu Briefen "An die Nachkommen in 100 Jahren" auf. Er bekam massenhaft Zuschriften und damit später einen unberechenbar hohen Profit. Ich will anregen, dass viele ältere Menschen ihr Leben durchdenken, niederschreiben und schon heute ihre Erfahrungen weitergeben, auch wenn sie keinen Verleger finden.
Ich bin überzeugt, dass sich schon heute unsere Enkel für unsere Vergangenheit und Lebensverhältnisse interessieren und mit den Darlegungen im Geschichtsbuch vergleichen.
2' Sonntags-, Glücks-, religiöses Kind oder Bastard
Geboren: laut Bürokratie, der Geburtsurkunde, die dich ein Leben lang begleitet, sonst bist du nicht da.
Da war auch die Hebamme. Von ihr bekommst du die ersten Schläge, ohne daß du dich an ihr rächen kannst, auch später nicht. Dein Geschrei quittiert sie mit dem freudigen Ausruf: "Ein Junge, ein Junge!" Ein ganz normaler Junge, mit allem dran. Ein normaler Tag, wäre da nicht Pfingstsonntag und Gewitter gewesen. Also Sonntagskind oder "Pfingstochse"?
Frage deine Eltern, wie es damals bei dir war, ehe es zu spät ist. Heute fragst du vielleicht "wozu"? Später interessiert es dich aber doch wie ihr damals gelebt habt, wie deine Umwelt war. Bei mir war es so:
Der Staat hieß "Deutsches Reich" und war kapitalistisch. Also war ich ein Kapitalist. Oder vielleicht auch nicht? Auf jeden Fall "arisch". Das musste durch Ahnenforschung bewiesen werden und rettete mir vielleicht das Leben - eben Glückskind.
Einige Zeit später wurde ich in ein schmuckvolles enges Steckkissen gepackt und ab ging es zur Kirche. Hier kam ein großer Mann in schwarzem Talar auf mich zu, besprengte mein kleines Haupt und Gesicht mit Wasser. Mein Schreien half wieder nichts und auch nicht, daß das Kissen von innen naß wurde. Später erfuhr ich von meiner Mutter, der "Schwarze" war nicht der Beelzebub, sondern der Pfarrer und ich sei nun "evangelischlutherisch". Was das für eine Partei war? Mir war es noch egal. Die "schwarze" CDU gab es damals noch nicht.
Auch zu den "Braunen" mit den langen Messern schien ich nicht zu gehören, denn in unserer Verwandtschaft lief niemand so kostümiert herum. Doch waren da auch noch andere "Schwarze". Die hatten so komische Blitze auf dem Kragen und da ich bei Gewitter geboren war, hatte ich immer Angst vor Blitzen. Da ließ ich mich an hohen Feiertagen schon lieber zu dem Schwarzen in der Kirche "verführen".
Manchmal, zum Beispiel Weihnachten, da war es auch richtig schön. In den Christmetten wurde gezeigt, wie ein Kind geboren und gefeiert wird. Das hinterließ bei mir einen guten Eindruck, zumal es hinterher auch Pfefferkuchen und Bratäpfel gab. Aber in der Kirche war es auch immer kalt und der Friedhof in der Nähe.
Deshalb ging ich später auch nicht mehr freiwillig hin. Aber man wird immer wieder dazu gezwungen, auch heute noch. Immer wenn jemand "Liebes" gestorben ist, muss man wieder dahin. Und das ist die Kehrseite des Lebens. Oder gehört das zum Leben? Weißt du es?
Meine Angst vor schwarz verlor sich nach und nach. Mein Großvater mütterlicherseits kam nämlich immer schwarz nach Hause. Er war Bergmann in den Kohleschächten im Erzgebirge. Das machte sich besonders später bezahlt. Er brachte im Rucksack immer "Armut" mit, einige Steinkohlebrocken. So hatten wir wenigstens immer eine warme Küche und wenn es nichts zu essen gab, ein gutes Tauschobjekt. Das wurde aber teuer bezahlt. 50 Jahre Steinkohlebergbau machen eine Stein-kohlenstaublunge. Weil unter Tage nicht geraucht werden darf, wird Kautabak "gepriemt". Seine Lunge war schwärzer als die eines Rauchers. Als Arbeiter wurde er Kommunist. Es scheint mir heute, als gehörte es sich damals so. Denn Arbeiter wollten ein besseres Leben und er war ein guter Arbeiter. Und für mich ein guter Mensch.
Meine Großmutter hatte eine uneheliche Tochter, meine Mutter. Uneheliche Kinder waren damals eine große Schande. Daß mein Großvater meine Großmutter trotzdem heiratete, zeigt große Liebe, Güte und menschliches Denken. Eine gemeinsame Tochter wurde erst später geboren.
Meine Mutter mußte 1914 in die Schule und mein Großvater für den Kaiser in den Krieg. Großmutter hatte es nicht leicht, beide Töchter durchzufüttern. In den Kriegsjahren mußte jeder hart arbeiten und hungern.
Zum Glück kam Großvater vor dem großen Gasangriff bei Verdun in Gefangenschaft und nach Marokko. Sehr spät kam er nach dem verlorenen Krieg von dort zurück. Mit leeren Händen und Malaria. Was sonst sollte er aus der Wüste mitbringen? Nur der gestürzte Kaiser hätte es sagen können.
Meine Mutter hatte schon als Kind in den Kriegsjahren und Wirren des Nachkrieges fleißig und hart arbeiten gelernt. Sie brachte durch die Zucht
in der kaiserlichen Schule gute Zensuren nach Hause. Dadurch fand sie in der Zeit der Weimarer Republik eine Lehrstelle als Repassierin in der Strumpfwirkerei eines aufstrebenden Kapitalisten. Zucht, Ordnung und Fleiß verhalfen ihr auch bei diesem Ausbeuter, mit der "Akkordarbeit" zurecht zu kommen und brachte ihrer Familie einige Reichsmark ein. Genug auch für ein Fräulein, mal ins "Gambrinus" tanzen zu gehen. Dort lernte sie einen schmucken sportlichen Maschinenschlosser kennen, meinen Vater. Alle guten Lernergebnisse nutzten jedoch nichts, sie bekam mich als uneheliches Kind. Obendrein noch häßlich gezeichnet durch eine blaue Gesichtshälfte, einen Blutschwamm. Waren Blitz und Donner am Geburtstag die Ursache? Wer wußte das damals schon? Es fand sich ein mutiger Arzt, der erstmalig versuchte, dieses Kainsmal elektrisch wegzubrennen. Ich soll fürchterlich gebrüllt haben. Zurück blieb nur eine heute kaum noch sichtbare Wangennarbe und ein kleines Loch im Ohrläppchen. Gut für einen heute beliebten Männerohrring. Hätte ich diesen Arzt später noch einmal getroffen, hätte ich ihn wieder angebrüllt. Dieses Mal vor Dankbarkeit und Freude.
Meine Großeltern väterlicherseits waren von anderem Schlag. Als einkommensgesicherte Wirtsleute konnten sie sich sechs Kinder und Großvater dicke Zigarren leisten. Geschäftsleute mit eigenen Häusern waren damals wie heute gut angesehen, konnten sich aber auch nicht so intensiv um ihre Kinder kümmern. So schlug das sechste Kind, also mein Vater, wohl etwas aus der Art. Ließ er sich doch tatsächlich mit einer Arbeitertochter ein und zeugte ein uneheliches Kind. Auch trieb er sich im kommunistischen Arbeiterturnverein herum. Schon der von ihm gewünschte Schlosserberuf hatte für Unverständnis gesorgt. Die Geschwister waren alle etwas "Besseres". Und nun auch noch das Balg. Nur gut, dass sich die "Vielbeschäftigten" nicht auch noch darum kümmern mußten, weil "es" bei den "Arbeitsamen" versorgt wurde.
Dann kam alles anders. Vaters Vater ist total verbittert. Ihm war das "Raucherbein" über dem Knie abgenommen worden. Seine Häuser mußten verkauft werden. Die "Geschäftsfreunde" waren Kapitalisten
und zogen ihren ehemaligen Partner kräftig über den Tisch.
Die Nazis nahmen ihm sein Hotel und machten daraus ein "Braunes Haus". Was ihm blieb, waren zwei Zimmer im kleinsten seiner Häuser und ein Plumpsklo über den Hof. Weiterhin blieb ein Zimmer für den Sohn, und wenn die anderen Mieter pünktlich ihre Miete zahlten, seine dicken Zigarren. Für diese hätte er noch sein zweites Bein gegeben.
Ein bitteres Leben als Rentier. Das bekam ich, der schreiende Balg, oft mit der Krücke zu spüren, wenn Mutter und ich zu Besuch beim "Geliebten" waren. Mehr vor Wut als vor Schmerz blieb mir einmal die Luft weg und ich lag ohnmächtig unter dem Tisch. Die Großmutter war nicht so. Sie hatte als "Frau dieser Gesellschaft" selbst unter dem Mann zu leiden. Sie hatte auch immer ein paar Bonbon für mich. Der Alte entschied: "Heiraten kommt nicht in Frage!" Deshalb ab mit dem unge-horsamen Sohn für ein paar Jahre zu seiner "betuchten" Schwester nach Finnland. Die Zeit wird es schon richten und die "Braut" wird vergessen.
Wir lebten in dieser Zeit bei meinen anderen Großeltern. Diese hatten 1922 noch einen Sohn, Mutters Stiefbruder, bekommen.
Obwohl er neun Jahre älter war, wuchs ich mit ihm wie mit einem Bruder auf. Ich freute mich, wenn er aus der Schule heim kam, mich drückte und mit mir spielte. Auch heute sage ich nicht "Onkel" zu ihm, sondern spreche ihn mit seinem Vornamen an. Diese Großeltern waren ganz anders. Auch in schwerer Zeit gab es keine Verbitterung. Im Gegenteil! Opa machte seinem Ärger über die "Braunen" immer Luft.
Er redete sich viel zu viel von seiner schwarzen Lunge. Die Kumpel warnten ihn oft: Schwudel-Schwätzer, dich holen noch mal die Nazis ab.
Doch es kam wieder alles ganz anders. 1935 wird doch das "Luder mit dem Kind" geheiratet. Sogar die Kommunisten wurden eingeladen und sie gingen mit in die Kirche. War es die Einsicht des Verbitterten, schuld zu sein, daß ich als Bastard geboren wurde? Oder war er es gar nicht? War es die Inflation? War es die Arbeitslosigkeit? Oder waren es viele andere Ursachen? Auf jeden Fall hatte die Liebe gesiegt und nicht die Zeit.
Dies alles erfuhr ich später und gebe es vermischt mit meinen wenigen Erinnerungen aus den ersten fünf Lebensjahren und natürlich mit
heutigen Gedanken wieder. All das beeinflußte sicher meinen Charakter und meinen späteren Lebensweg maßgeblich.
Ob wohl jemals einer seinen Lebensweg ergründen kann? In der gleichen Zeit gleichen sich viele Lebensgeschichten. Viele verlaufen auch ganz anders. Doch eins haben sie gemeinsam, sie unterstehen den Verführern, denen, die die Macht haben.
Sonntagskind? Pfingstochse? Glückskind? Täufling und Bastard?
... fortsetzung folgt... wenn ihr wollt :-)
Oh ja, bitte...
... wollte gerade die Kiste ausmachen, aber habe es noch gelesen, weil es so interessant war.
Mir gefällt es sehr - ganz genau der Schreibstil, den ich mag.
Und ich LIEBE solche persönlichen Geschichten. Gerade auch aus dieser Zeit.
Bitte gerne die nächste Folge!
LG,
orni
Oh ja, bitte...
freut mich sehr, dass dir (erstmal der anfang) gefällt und da stell ich doch auch gerne die fortsetzung ein.
ich hab vorhin noch bissl im buch gelesen und hab gesehen, dass mein dad sogar paar wörter (wie z.b. knallkörper *gg*) aus meinem wortschatz übernommen hat :-)
lg michaela
Super...
Seit 18 jahren ist sie nicht mehr unter uns und ich bin soooo unendlich froh, dass ich ihr als Kind sooo gesagt habe, "Oma erzähl mir doch von früher!!!" Sie hat mir sooo viele Dinge erzählt.. vom Krieg, von ihrer Kindheit und wie sie und mein Opa all ihre Kinder großgezogen haben. (sie hatten 6 KInder, meine mutsch war die älteste!)
Mein Opa verstarb sehr früh (mit 63J) und meine Oma ist auch recht früh verstorben, sie hatte MS.
Ich habe diese beiden Mensch von ganzem herzen geliebt... jetzt wo ich über sie schreibe, laufen mir die Tränen übers gesicht!! Ich vermisse sie!! Sie haben mir so viel Liebe und Geborgenheit geschenkt... Schade, dass ich sie nicht mehr in den Arm nehmen kann!
ABer ich hoffe, sie schauen von oben zu und freuen sich, dass es mir gut geht und ich bald wieder Mama werde.
LG Kaja
Super...
dass hast du sehr schön geschrieben und ich kann deine gefühle total gut verstehen.
weißt du, ich habe meinen dad nie weinen sehen, aber immer wenn wir zusammen sind und erzählt was von früher, dann bemerke ich immer öfters, wie ihn das alles berührt und wie er tränen in den augen und einen kloß im hals hat. da könnt ich immer mitheulen:,(
ich finde es super, dass mein dad seine erinnerungen niedergeschrieben hat. so wird er für uns alle unvergeßlich bleiben. :-)
lg michaela
ps: teil 3 kommt sofort :-)
ot: ich will euch mal was fragen...
Hi,Käferle...ohja,ich werde weiter mit lesen....
Meine Großeltern(1926/27)leben beide noch(mütterlicherseits,wobei meine Mama als erste Tochter meine Oma einen unbekannten Vater hat---ähnlich der Bastardgeschichte)und erzähl(t)en auch gern von früher...ich mag das sehr ,auch wenns oft traurig ist(meine Oma verlor ihr 7monate altes Baby(das vierte Kind)und immer,wenn meine Kinder 7Monate waren,guckten sie so anders(wohl die Erinnerung ,die Angst usw...)....Alle aus meiner Familie und Verwandschaft sind dunkelhaarig bis dunkelblond und ich habe 3blonde Kinder(und ein altes uraltes fast zerissenes Foto,was meine Mama hat von ihrem *echten*Vater,zeigt blondes Haar!)Ich forsche gern in solchen Geschichten rum....
Meine großeltern feiern im August DIAMANTENE Hochzeit...wow,was?
LG Tina
ot: ich will euch mal was fragen...
was? diamantene hochzeit? cool :ROSE:
ich hab leider keine großeltern mehr. es ist nur noch der "onkelbruder" von meinem vater da und er müßte auch schon weit in den achzigern sein, aber noch isser rüstig. er geht immer mit den (lach jetzt ja nicht) randfichten auf tour :-) kennste die holzhackertruppe *kringelmich*
lg michaela
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