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ot: erzählungen kapitel 5 und stückel kapitel 6

... weil es sonst (für heute) zuuu lang wird.
5' Kein Krieg ohne Folgen
Wohl kaum eine Familie der kriegsbeteiligten Völker wurde verschont. Not, Elend, Tote, Trümmer, Hunger und auch Familientragödien. Alle vom Jahrgang 1930/1931 und andere auch machten dieses in unterschiedlicher Weise 1945 durch. Bei mir war es die Scheidung der Eltern, die man mir nach einigen Tagen der Ruhe versuchte, schonend beizubringen. Keiner wollte schuldig sein, genauso wie am großen Krieg. Man versuchte zwar, die Schuldigen zu finden, findet aber nur Opfer. Opfer war ich, der nun zwischen beiden hin- und hergerissen wurde. Das ist für ein jugendliches Nochkind schwer, hat aber auch Vorteile. Jeder will ihm Gutes tun. Deshalb gab ich es auf, nach schuldig oder nichtschuldig zu fragen. Auch im späteren Leben nicht. Wie die Kriegsopfer in der Nachkriegspolitik pendelte ich mal zu dem und mal zu dem. Auch gab es in dieser Zeit Schlimmeres. Vater wurde eines Morgens von MP´s (amerikanische Militärpolizei) abgeholt. Abends war er wieder zurück. Bleich und zusammengefallen, mehr tot als lebendig. Er war im Schacht "Dora" an ehemaligen Kriegsgefangenen vorbeigeführt worden, um festzustellen, ob er zu den Tätern gehörte, die dort noch zu Kriegsende zahllose Zwangsarbeiter an den Heizungsrohren aufgehängt hatten. Hätte nur einer mit dem Finger auf ihn gezeigt, wäre er ein toter Mann gewesen.
Täter - Opfer - Mitläufer
Die ersten beiden Bezeichnungen waren geläufig, "Mitläufer" wurde neu geprägt, wie heute das "Unwort des Jahres". Auch eine neue Institution gab es, die zur "Entnazifizierung". Als Nochfamilie gingen wir gemeinsam dorthin. Nach der üblichen Wartezeit und dem Ausfüllen einiger Fragebögen ging alles verhältnismäßig schnell. Meine Mutter war nur zahlendes Mitglied in der "Deutschen Frauenschaft". Mein Vater war nie Soldat und erst verhältnismäßig spät 1944 zwangsläufig der NSDAP beigetreten. In "Dora" war er auch geprüft. Ich hatte beim Jungvolk mein Ziel, Jungschaftsführer zu werden, nicht erreicht. Also stuften uns die zwei Amerikaner in Uniform und der zivile Dolmetscher als"Mitläufer" ein, hauten Stempel auf die Papiere, wir waren "entnazifiziert". Was das auch immer heißen sollte? Man gehörte nicht zu den Tätern, obwohl man eigentlich auf irgend eine Art und Weise mitgekämpft hatte. Ob mit Sammelbüchsen fürs WHW (Winterhilfswerk), ob mit Dachdecken beim Blockwart, ob Handschuhstricken für die Helden im russischen Winter oder wie die Hitlerjungen mit der Panzerfaust im Endkampf. Man hätte sich auch zu den Opfern bekennen können. Man hatte gelitten unter den Nazis in irgend einer Art und Weise, ob ausgebombt, ob vertrieben, ob verletzt. An Hunger und Entbehrungen hatte jeder gelitten. Ein Opfer kann sich selbst bedauern. Aber Mitläufer? Was war ein Mitläufer? Ein Dummer, ein Dussel, ein nichtdenkender abgerichteter Windhund? Ein Mitläufer ist ein Nichts, ein Nichtskönner, ein Nichttätiger, ein Nichtbekennender, ein namenloser Niemand, ein Fliegenschiß der Geschichte. Jetzt mußte man sich mit sich selbst auseinandersetzen. Wie kann man in der neuen Zeit nicht Täter, nicht Opfer und gleich gar nicht Mitläufer sein, sondern ein denkender tätiger Mensch? Bisher erzogen zu Unterordnung und Gehorsam brachte die gewonnene Freiheit einen neuen Charakterzug in mir hervor, "das eigene freie Denken". Die Russen hatten unter größten Opfern die Hitlerarmee vernichtet. Aber die Westmächte hatten gewonnen. Sie kooperierten sofort mit der deutschen Wirtschaft, mit der Industrie und den Banken, mit denselben, die mit allen Mitteln Hitler zu Macht und zum Krieg verholfen hatten (Film: Rat der Götter). Diese Konstellation mit den Kapitalisten wurde von Adenauer als Demokratie bezeichnet. Der Freiheitsbegriff wurde zwar neu interpretiert als Freiheit des Andersdenkenden. Aber wer anders dachte, als die Politiker in Ost oder West vorgaben, wurde als Feind der Freiheit bekämpft und bekam wieder den Knüppel der Polizei zu spüren. Es begann ein neuer Krieg, der "Kalte Krieg".
Ich wollte einfach nicht mehr alles hinnehmen, sondern kritisch prüfen und tätig werden. Wie erging es dir? Welche Gedanken hattest du? Was hattest du für ein Ziel?
6' Lehrling - pubertierender Friedenskämpfer - Kommunist
Ich war kein Nazi mehr, also konnte ich Lehrling werden. Bloß welchen Beruf? Ich hatte keine Ahnung. Mein Vater half bei der Berufswahl. Vorschlag: Friseur - Haare wachsen immer, da wirst du nie arbeitslos. "Nee, Seifenpatschel nicht, da hatte ich einen Friseursohn in der Schulklasse, das war soon Weichei!" Vorschlag: Du hast Mittelschule, da kannste Forsteleve werden. "Nee, ist für mich zu schwer, immer Bäume fällen!" Vorschlag: Kellner - da fällt immer was zu essen ab, und da schon die Großeltern Gastwirte waren, habe ich noch Beziehungen. "Gut, essen ist wichtig. Vorschlag angenommen!" Vater ließ die Beziehungen spielen. Ich wurde in einem der renomiertesten Lokale der Stadt angenommen. Sogar Lehrlingsunterbringung im Mansardenzimmer war vorgesehen. Inzwischen war auch die Elterntrennung und nun auch ich von ihnen geklärt. Was fehlte, war Berufskleidung. Für Filou Vater kein Problem. Schließlich hatte er sich schon etabliert.
Untergekommen war er bei einer blonden gutmöblierten ehemaligen Offiziersfrau, die ihrem gefallenen Helden nicht lange nachtrauerte. Und gesunde, unversehrte, gut aussehende Männer waren knapp. Sein Vermögen, die Briefmarkensammlung, hatte er auch gerettet und sie bildete den Grundstock für eine Geschäftseröffnung. Mit dem Vater meines Oberschulfreundes tat er sich zusammen. Auch der hatte eine neue blonde Ehefrau und einiges Geld. Mit diesem erwarb er zu gün-stigen Preisen Musikinstrumente, die zu dieser Zeit sowieso niemand brauchte. Das Briefmarken- und Musikinstrumentengeschäft wurde eröffnet. Die Neuunternehmer waren im Wechsel viel unterwegs, legten ihr Geld in Briefmarken-Notausgaben, Städte- und Übergangsmarken, sowie in wertvollen Musikinstrumenten an, die billig zu haben waren. Dabei besuchten sie auch viele Bekannte und lernten andere Geschäftsleute kennen. Es wurde alles gehandelt, was sich für Geld erwerben ließ. So ergab es sich, daß sich das Lager des Geschäftes auch mit anderen Waren füllte, die vorerst niemand mehr brauchte. Darunter war auch ein Smoking und ein Gehrock. Ein Schneider war schnell gefunden. Aus dem Gehrock wurde ein Frack und nach wenig Änderungen paßte mir der Smoking.
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Meiner Lehrausbildung stand nichts mehr im Wege. Bei der Unterschrift auf dem Lehrvertrag sah ich meinen Lehrherren zum ersten Mal. Er war Inhaber dieses weltberühmten Lokals wohl schon seit 1929. Es war ein richtiger Herr vom Auftreten und Aussehen. Groß, kräftig, dickbäuchig konnte ich ihn mir gut in der Uniform eines Gauleiters vorstellen.
Termingerecht und pünktlich 6 Uhr trat ich meinen Dienst in der Gaststätte an. Natürlich pico bello im Smoking. Erstes Gelächter der älteren Lehrlinge in Zivil mit Schürzen. Erster guter Rat: Jacke aus, weiße Ärmel hochkrempeln, Schürze umbinden und dann mit uns Aschenbecher waschen und Silbertabletts putzen. Zweiter schlechter Rat: Erst rauchen wir mal "Eine". Keine Angst, bei Opa hatte ich ja schon gepafft. Erneutes Gelächter: Der pafft ja nur, auf Lunge mußt du rauchen. Der Versuch, ein lebenslanger Fehler. Ich wurde dieses Laster nie wieder los.
Dann kamen zwei Geschäftsführer im Cuteway. Vor denen hatten die Lehrlinge mächtigen Respekt. Die Lehrlinge verbeugten sich devotisch und grüßten höflich. Ich wurde vorgestellt und verbeugte mich linkisch und hörte aufmunternd: Das muß er auch noch lernen.
Mit 14 aus dem Haus. Man war auf sich allein gestellt. Man war erwachsen. Man mußte lernen, leben lernen. Ein Leben in Freiheit, in neuer Selbstständigkeit, in eigener Verantwortung. Bisher wurde alles vorgegeben und befohlen, man brauchte nicht zu denken. Nun mußte man denken. Es war eine neue Zeit. Man mußte mit sich selbst ins Reine zu kommen, und dabei auch noch einen Beruf erlernen.
Die ersten zwei Tage galt es, den Gästen die Tür zu öffnen, sie höflich zu begrüßen und die Arbeit der Kellner zu beobachten. Verkauft wurden auf Lebensmittelmarken Mehlklöße mit Spinat, Möhreneintopf mit zwei Scheiben Brot. Wer eine Fleischmarke hatte, konnte Bulette bekommen.
Ohne Marken gab es Spinatsuppe. Auch ein Dünnbier füllt den Magen. Als Lehrling muß man lernen, mehrere Teller und Gläser zu tragen, ohne etwas zu verschütten. Nach und nach wurde es besser. Es gab auch Kartoffel- und Nudelgerichte. Später gab es auch "Alkolat" (Destillatabfall bei der Weinbrandherstellung), welchen wir Lehrlinge in einem Glasballon im Handwagen holen mußten. Wenn wir damit durch die Stadt zogen, wurde die Arbeit lustiger. Die Gummikappe diente als Trinkbecher. Ob man davon hätte erblinden können, weiß ich nicht, wollte es auch nicht wissen. Jedenfalls kam es vor, daß die Geschäftsführer abends manchmal die Kellnerabrechnungen nicht mehr erkannten und es zu Fehlbeträgen kam. Ich nahm mir vor, den Alkohol zu meiden. Ich versuchte auch, mich ansonsten halbwegs anständig zu benehmen. Das fiel vielleicht auch dem Inhaber auf, der täglich einmal mit seiner jüngeren Frau durchs Lokal ging und jovial viele bekannte Gäste begrüßte. Von seiner Frau bekam ich einige Sonderaufträge, bei denen der Handwagen eine besondere Rolle spielte. Mit ihm mußte ich mal Birnen von Leuten aus der Vorstadt holen. Die Qualität wurde von mir geprüft und für saftig gut befunden. Regelmäßig wöchentlich mußte ich einen Syphon Bier mit dem Handwagen ausliefern. Die Qualität des Bieres war auch besser, als das im Lokal ausgeschenkte. Zu einer privaten Hochzeitsfeier zog ich mit dem Handwagen voll Gaststättengeschirr. Dort durfte ich an der Tafel als Kellner einige Zureichungen machen und hinterher das Geschirr spülen. Dafür gab es dann mal etwas Trinkgeld.
Was mir bei diesen Sonderaufgaben auffiel: Es waren alles sehr vornehme und gute Bekannte des Chefs, die vergangenen Zeiten nachtrauerten, in denen sie besser gelebt hatten. Ja, die Zeit hat sich geändert. Es gab plötzlich mehrere Parteien, die alle von einer neuen Zukunft für Deutschland und von besserem Leben sprachen. Zur Zeit gab es zum Leben den "Schwarzen Markt". Auf diesem wurden Teppiche zu einem Sack Kartoffeln. Leitwährung waren Zigaretten, Richtwert 10 Mark, in der Stadt bis zu 20 Mark. Ein Pfund Butter kostete 400 Mark. Eine gute Uhr erbrachte 1000 Mark.
Der Jahrgang 1930/1931 weiß, welchen Wert eine Butterschnitte hat.
Die neue Ideologie
In einer Arbeitspause sah ich viele Menschen zum größten Platz der Stadt strömen. Dort sei eine Jugendkundgebung. Als Jugendlicher nichts wie hin. Vielleicht gibt es was Neues. Vor dem Platz waren Stände, an denen man Zettel verteilte mit dem Hinweis, daß man nur zu unterschreiben brauchte. Ich unterschrieb und bekam eine blaue Faltkarte mit einer aufgehenden gelben Sonne. Ich nahm an, es sei die Eintrittskarte. Auf dem Platz sprachen antifaschistische Jugendliche davon, daß Marx und Engels die Oligarchie als Feind der arbeitenden Klasse bezeichneten, weil sie diese ausbeute, von ihr lebt und immer wieder neue Märkte durch Krieg erobern muß. Schon Karl Liebknecht bemühte sich um die antimilitärische Erziehung der Jugend und gegen den Krieg. Ich hörte zu, verstand nicht viel, aber gegen Krieg war ich.
Spannend wurde es nur einmal, als ein junger Mann in zerrissenem Soldatenmantel auf die Bühne drängte und dem Redner ins Wort fallen wollte. Er kam nicht dazu. Viele Hände zerrten ihn unsanft vom Mikrofon weg in die Menschenmenge und er wurde nicht mehr gesehen. Als ich verspätet zum Dienst erschien, zeigte ich dem Geschäftsführer die Teilnehmerkarte. Er griente gehässig über meinen Mitgliederausweis der Antifa-Jugend.
Einige Zeit später schickte er mich zur Strafe abends in meiner Freizeit in das Schauspielhaus zu einer FDJ-Versammlung und riet mir, dort beizutreten. Auch wenn das einen geringen Beitrag kostet, könnte es für mich gut sein. Auch hier verstand ich von dem, was geredet wurde, nicht viel. Erziehung der Jugend zu neuem Gedankengut, Aufbau einer fortschrittlichen Jugendorganisation, Erhaltung und Verteidigung des Friedens waren Schlagworte. Hörte sich gut an, blieb im Kopf haften. Ich trat bei. Verteidigung war auch Boxen. Konnte ein Kellner vielleicht mal brauchen. Ein junger Kellner, mit dem ich mal als Saalkellner arbeitete, leitete eine Jugendboxgruppe. Mit einer geklauten Wäscheleine zum Seilspringen lernte ich bei ihm die Grundbegriffe des Boxens.
Unbemerkt kam eine neue Zeit. Bei jedem verläuft sie anders.
…forsetzung folgt… übrigens hat mein dad vor 3,5 jahren mit dem rauchen aufgehört. *respekt*
lg michaela
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