Späte Mutterschaft:
Ein Skandal, ein Wunder, ein Missbrauch moderner Medizin oder einfach spätes Glück?
Betrachtungen über ein heißes Thema von Marguerite Dunitz-Scheer, Univ. Prof. Dr. med., Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde, Psychotherapeutin, ÖAK PSY Diplome für Psychosoziale, Psychosomatische & Psychotherapeutische Medizin, Diplom für Unternehmens- und Sozialmanagement, geb. 1955, verheiratet, 6 Kinder geb. 1980-1995, derzeit Projektleiterin für Graz 2003 im Kinderkulturbereich.
Einleitung:
Zwei Frauen bekommen innerhalb weniger Stunden in einer Stadt ein Kind. Eigentlich eine schöne Meldung; insbesondere als auch bekannt wird, dass die Kinder, zwei gesunde Mädchen, samt ihren Müttern wohlauf und gesund sind. Obschon wir im Lande dramatisch sinkender Geburtenraten leben und normalerweise wenig über Kinder bekommen geredet wird, hat diesmal die Presse und der Volksmund den Mund weit offen; denn das heiße Thema ist die Meldung, dass das Lebensalter der frischgebackenen Muttis fast 60 und etwas über 60 Jahre ist! Weshalb ist denn die Meldung überhaupt durch den Wall der ärztlichen Verschwiegenheit gelangt? Waren es die stolzen Mediziner oder war es das narzisstische Bedürfnis der Mütter selbst, die Presse zu verständigen? Ich weiß es nicht, aber an den heftigen Reaktionen ist klar, dass ein Tabu gebrochen wurde. Die öffentliche Meinung wechselt von Empörung und Mitleid mit den armen Neugeborenen zu blanker Verurteilung und dem Vorwurf des Missbrauchs moderner medizinischer Methoden für späte Perversionen oder zumindest Neurosen der Mütter.
Variablen der Mutterschaft:
In der medizinischen wie psychologischen Fachliteratur wird eine Mutter meist durch Alter und Sozialstatus charakterisiert. In angloamerikanischen Ländern wird auch auf die ethnische Herkunft hingewiesen. Bekannte medizinische Risikofaktoren, welche mit steigendem Alter zunehmen, sind genetische Mutationen, Osteoporose, Bindegewebsstörungen, steigende Tendenz zur Frühgeburtlichkeit und andere medizinische Komplikationen wie Folgekrankheiten vorangegangener Schwangerschaften wie Uterusrupturen, Kreislaufbeschwerden etc. Bekannte psychologische Risikofaktoren sind Unerwünschtheit der Schwangerschaft, massive psychosoziale Nöte, Zustand nach Gewaltexposition in oder vor der Schwangerschaft, psychiatrische Diagnosen, Depressionen, u.v.a.m. Eine gute Mutter ist aber jede Mutter, ganz unabhängig vom Lebensalter, die ihr Kind liebt und hegt und seine Entwicklung fördert. Dabei gilt es, das sensible Gleichgewicht der kindlichen Bedürfnisse liebevoll im Kontext der eigenen Befindlichkeit und Wahrnehmung eigener Entwicklungsbedürfnisse zu finden und sich als Mutter den immer neuen Entwicklungsphasen des heranwachsenden Kindes flexibel anzupassen. D.H. Winnicott, ein berühmter englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, prägte das theoretische Konzept der "good enough mother". Das heißt, dass es eben nicht darum geht, eine perfekte uns allzeit alle Bedürfnisse erraten und erfüllende Mutter zu sein, sondern sich selbst als eine jeweils "gerade gut genug Mutter" zu inszenieren. Das heißt soviel, dass dem Kinde durch all erfüllende zur Verfügungsstellung von überfließender Mütterlichkeit gar nicht nur geholfen wird, sondern es für die Vorbereitung aufs echte Leben in der Gemeinschaft auch Grenzen kennen lernen muss und sich behaupten und abgrenzen lernen muss. Da jede Mutter in der Welt ihrer Erwartung nach eine "gute" Mutter sein möchte gilt es, sich eine innere Skala von Kriterien und Vorstellungen dieser Güte zu machen und sich danach zu richten und entwickeln zu versuchen. Dies gilt für das eigene Selbstvertrauen, dem Selbstbild der eigenen Mutterschaft wie auch für die Fremdwahrnehmung, das ist die Meinung, Beobachtung und Einschätzung von Außen, seien dies Partner, Verwandte, Helfer oder Nachbarn. Das Alter ist also ein Angabe, die als wichtig erachtet wird und als Einzelfaktor statistische Aussagen über große Kollektive erlaubt, aber im Einzelfall keine stabile Prognose über Güte machen kann. Insofern ist es eine Falle für Vorurteile und Meinungen und kein reliables prognostisches Einzelkriterium. Variablen der Elternschaft Alte und junge Mütter werden kritisch diskutiert, das Alter der Väter meist gar nicht erwähnt. Für die Entwicklung des Kindes ist die Güte der Partnerschaft, die Atmosphäre der Paarbeziehung, der Aufbau diadischer (Beziehungsaufbau zwischen zwei Menschen) Beziehungen in einer intakten Triade (Dreieck Mutter-Vater-Kind) von großer Wichtigkeit. Dies ist sicherlich an sich wichtiger als das Faktum des Lebensalters. Fast die gesamte Entwicklung präverbaler und später verbaler Kommunikation zwischen dem sich entwickelnden Kleinkind und seinem Umfeld beginnt im Dreieck der Eltern. Ist ein Elternteil alleine erziehend, kann dieses Dreieck auf einer imaginären Ebene präsent sein oder verleugnet werden. Jedenfalls spielt das absolute Lebensalter oder das Intervall der Lebensalter der beiden Kindeseltern keine so wesentliche Rolle; vielmehr scheint die Qualität der Atmosphäre der Beziehungswelten auf- und zueinander stärkere Auswirkungen auf das Kind zu haben als das biologische Alter. Wer macht so etwas? Unerfüllter Kinderwunsch wird von Fachleuten als ein bekanntes Phänomen gesehen, für Außenstehende erscheint jedoch häufig die Zielstrebigkeit und Konzentration, mit welcher manche Frauen sich dem Thema widmen, Formen einer Perversion oder geistigen Besessenheit anzunehmen, die einem Suchtverhalten gleicht. Und da bekanntlich Süchtige unterschiedlicher Suchtmittel einander nicht verstehen und Nichtsüchtige wiederum Süchtige grundsätzlich nicht verstehen, erscheint es sehr problematisch, hier grundsätzliche Aussagen oder Wertungen als gerechtfertigt anzunehmen. Festzustehen scheint, dass unerfüllter Kinderwunsch sich zum zentralen Lebensthema werden kann und einer "Idee fixe" gleich durch keine Alternativen (soll sich doch einen Hund anschaffen, soll doch lieber reisen mit dem Geld ...) abzuwenden ist. Warum geht’s wen an? Je weniger Kinder eine Gesellschaft produziert, desto interessanter wird das Einzelne. Die Geburtenrate in Westeuropa purzelt den Berg hinunter und dieses Faktum wird auch auf gesellschaftspolitischer Front in nahezu unverantwortlicher Weise geleugnet und verdrängt. Anstatt über jedes einzelne Kind, welches geboren wird, begeistert zu sein, wird neidisch und wertend geurteilt und die Tatsache der Geburt zweier Kinder von überdurchschnittlich älteren Müttern in gut österreichischen Manier "runtergemacht". Wen geht’s überhaupt an? Die Eltern, das Kind, vielleicht auch gerade wegen des höheren Lebensalters potentielle Hilfseltern wie Verwandte, gute Freunde und nahestehende Begleiter der neuen und ungewöhnlichen Situation. In einer Zeit in welcher ermöglicht wird, dass körperlich oder auch geistig behinderte Mütter, psychiatrisch kranke Mütter, homosexuelle Eltern etc., etc. Kinder bekommen können, kann es nicht ethisch begründet werden, alleine aufgrund eines höheren Lebensalters die Legalisierung einer Mutterschaft in Zweifel zu stellen. Möglicherweise wäre es deshalb angebracht, auch für diese neue Ausnahmesituation in verantwortlichen Kreisen, Menschen zu suchen und zu bestimmen, die sich ähnlich wie den Richtlinien für andere Ausnahmesituationen, über spezielle Richtlinien für betagte Eltern kleiner Kinder den Kopf zerbrechen sollten. Dabei könnten etwaige Empfehlungen und Hilfsstellungen ausgearbeitet werden, welche besonders das Wohl des Kindes und die Förderung seiner Entwicklungspotenziale in den Vordergrund sozialer oder therapeutischer Bemühungen oder Maßnahmen stellt. Was spricht eigentlich dafür? Das persönliche Nutzen der Errungenschaften moderner medizinischer Technologien, vergleichbar mit vielen anderen Beispielen, welche immer ethische Diskussionen und Fachmeinungen auslösen wie beispielsweise seit einigen Jahren in der Transplantationsmedizin oder der Gentechnik. Niemand bekommt mit 60 Jahren ein Kind "von selbst". Anzunehmen ist, dass es sich bei den zwei erwähnten Müttern um Frauen mit intensivem, langjährigen unerfüllten Kinderwunsch handelt, die sich sehr wahrscheinlich einer nicht zu vernachlässigenden Reihe von körperlichen und psychischen Strapazen ausgeliefert haben, bis der Erfolg, nämlich die sichere Schwangerschaft, erzielt war. Die Zukunft wird weisen, ob diese Einzelfälle Ansporncharakter auf andere Frauen haben werden und ob wir in wenigen Jahren über 70-jährige Mütter oder noch ältere Frauen hören werden. Was spricht eigentlich dagegen? Vieles! Alle körperlichen und emotionalen Eigenschaften, die Eltern brauchen, um ihrem Kinde "fit" und flexibel in seiner Entwicklung folgen zu können, sind aufgrund des höheren Lebensalters reduziert.
Die klinische Erfahrung zeigt ganz eindeutig, dass erhöhte Sicherheitsängste, Sorgen um Fehlentwicklungen und Krankheiten und ein eher überinvolviertes Beziehungsmuster mit reaktiver Unselbstständigkeit und Verunsicherung der Kinder bei älteren Primipara typisch sind. Ebenso ist der Stress, einem Einjährigen auf seinen gefährlichen Streifzügen zu folgen, oder die Geduld und Ausdauer, einer oft monatelangen Trotzphase humorvoll entgegen zustehen, stärker. Stellt sich nun irgend ein auffälliges Verhalten beim Kind ein, sind Schuldgefühle und Selbstvorwürfe zu erwarten, die wiederum dem betroffenen Kind nicht helfen. Mutterschaften finden unter natürlichen Umständen in einem Zeitfenster von ca. 25 bis maximal 30 Jahren statt, so dass eben auch energetisch für anstrengende Kindererziehungszeiten und Herausforderungen vorgesehen ist. Die oft nicht einfache Zeit der Pubertät wird die Eltern mit einem Wildfang konfrontieren, dessen Leben fast zwei Generationen später stattfindet, wie es die Eltern die Zeit ihrer Pubertät selbst erlebt haben. Und dies könnte zu Spannungen und Differenzen führen, die über das normale Maß von Reibereien und Konfrontationen hinausgeht, für welche dann die gut über 70 jährige Mutter nicht mehr ideal gewappnet sein könnte. Da Kinder bekommen aber immer eine aktivere Sache von Seiten der Eltern und ein zumindest äußerlich passiveres Geschehen von Seiten des Embryos ist, ist diese Dysbalance nicht neu und deshalb die Diskussion schwer unter dem Motto "das arme Kind" oder "das Kind möchte ich aber net sein" zu führen! Das häufigste Argument, dass das höhere biologische Alter zu einem frühen und deshalb traumatischen Verlust des Elternteils durch dessen natürlichen Tod führen wird, ist statistisch zwar wahrscheinlich, kann aber bekanntlich durch viele Beispiele von positiven Entwicklungsverläufen und Einzelschicksalen auch widerlegt werden. Und wie wird’s gehen? Wahrscheinlich gut. Einerseits haben gesellschaftliche Tabus die Tendenz, meist schwerere Prognosen in den Raum zu skizzieren als die Realität dann liefert. Und die Natur verhält sich eben in Vielem gegen den Grundsatz "was nicht sein darf, ist nicht"! Andererseits ist die Natur und die Persönlichkeit heranwachsender Kinder stark und setzt sich in Vielem gegen die Eltern durch. Insofern wird ein ersehntes, geliebtes und gesundes Kind mit der für es selbst vertrauten aber für andere neuen Situation sicher ganz gut fertig werden und sich selbst, wie in vielen sozialen Ausnahmefällen schon eine Liste von Vorteilen gegenüber erlebter Diskriminierungen und gemeiner Aussagen zurecht legen. Öffentliche Meinung und Kindesentwicklung Das Phänomen der Problematisierung und Stigmatisierung darf nicht unterschätzt werden. Kinder sind Seismographen sozialer Erwartungen und Übertragungsphänomene. Wenn das Kind der deutlich älteren Mutter ständig zu spüren bekommt, dass seine Lebensform oder Familie "nicht normal" ist, wird dies sicherlich einen negativen Einfluss auf seine Entwicklung haben. Andererseits wissen wir aus Studien von Entwicklungsverläufen beispielsweise psychiatrisch kranker Eltern oder Kinder von behinderten Eltern, dass der negative Einfluss der Ausnahmesituation oft überschätzt wird. Wissenschaftlich nachweisbar ist, dass es gerade in diesen Fällen sehr wichtig ist, ausgleichende Miterzieher zu haben, deren Einfluss auf das Kind im Bedarfsfall korrigierend und relativierend wirkt. Das heißt, dass das Kind, falls die ältere Mutter schwer erkrankt oder gar stirbt, bevor das Kind selbst erwachsen ist, solide und verlässliche andere Welten kennt, zu welchen es von Anfang an positive Beziehungen aufbauen konnte. Warum nicht einfach schauen und abwarten? Die Kinderanalytikerin Selma Freiberg formuliert in ihren Schriften die Wichtigkeit des WWW Ansatzes; "Wait, Watch and Wonder" heißt soviel wie "warte, beobachte und staune" und gib dem Kind die Chance, sich in einem förderlichen und zugewandten Umfeld entwickeln zu dürfen. Sie definiert die Aufgabe von Eltern, ohne Druck und Zwang einfach der Entwicklung ihres Kindes beizustehen und als wohlwollende Begleiter nur dann aktiv einzugreifen, wenn das Kind eine klare Grenze oder Schutz braucht. Die Bibel beschreibt die Situation, dass Isaaks Frau Sarah mit über 80 schwanger wurde und eines gesunden Kindes gebar, nämlich Jakob, der ja als Stammvater historische Berühmtheit erlangte und insofern ein positives Beispiel einer Entwicklung als Kind einer alten Primipara gewertet werden muss! Und wie geht’s weiter? Der Volksmund spricht zornig und zweifelnd. Dies ist schade, weil es niemandem hilft. Weder reduziert es das Vorkommen solcher oder ähnlicher Ausnahmen, noch tut es den Zornigen gut. Wie die beiden gerade neugeborenen Mädchen ihrer älteren Mütter selbst in einigen Jahren empfinden und berichten werden, wissen wir nicht. Spekulationen scheinen auch nicht zielführend aber ihre Entwicklungsverläufe werden möglicherweise beispielgebend für andere Frauen sein.
Die Zukunft wird auch hier – ähnlich der Diskussion in der Transplantationsmedizin - Erfahrungswerte erbringen, aus denen vielleicht Schlüsse gezogen werden können. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass diese Meldung ein Einzelfall bleiben wird, denn die Entwicklung in der Wissenschaft geht vorwärts und selten rückwärts; versuchen wir also offen und neugierig zu sein und diskret zu begleiten, wie sich diese beiden Kinder entwickeln werden. Als psychotherapeutische Empfehlung wäre ein Coaching oder eine Begleitung der Eltern durch den Kinderfacharzt oder im Sinne der Frühförderung oder ähnlicher Maßnahmen empfehlenswert, alleine schon um den Müttern und Eltern beizustehen, den zu erwartenden verbalen Angriffen gut gewappnet entgegenzustehen und sich unbehindert an ihrem Kinde und seiner Entwicklung freuen zu können. Da unsere heutige Gesellschaft viel bunter und heterogener geworden ist und kulturelle und soziologische Unterschiede eher häufiger werden, werden die betroffenen Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit keiner spezifischen therapeutischen Begleitung oder Therapie im engeren Sinne bedürfen, da sich fast jede mögliche Auffälligkeit ihrer Entwicklung im Kontext anderer Auffälligkeiten und Unterschiede relativiert werden muss und nur bei persönlichem Wunsch oder bei spezifischen. zusätzlichen Schwierigkeiten Unterstützung von Außen gerechtfertigt sein wird.
Univ.-Prof.Dr.Marguerite Dunitz-Scheer
Interessanter Artikel (aber laaaaang): Spätes Mutterglück
Interessanter Artikel (aber laaaaang): Spätes Mutterglück
Ich hoffe, du konntest ihn reinkopieren und mußtest nicht tippen.
Habe ihn grade überflogen und fand ein paar interessante Aspekte.
Werde ich, wenn ich mehr Zeit habe, mal "richtig" durchlesen.
Danke!
LG
josa
Ich habe es richtig gelesen .... ;)
und darin mein Motto für Kindererziehung gefunden ....
Allerdings schon seit etwa 20 Jahren ;-)
Danke orni!
lg ani
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