ot: erzählungen kapitel 4 (lang und -für mich- sehr traurig)
Wir zogen in das Haus der verstorbenen Großeltern. Meine Zensuren waren in der Schule durchschnittlich. Das reichte aber nicht. Ich sollte in eine höhere Schule, um mal zu studieren. Darum bekam ich sonntags Nachhilfeunterricht für einen Taler (drei Mark) pro Stunde. Später hieß es: rausgeschmissenes Geld.
Mein Vater war wieder eine Position aufgestiegen. Wie er mir erklärte, durch Leistung nicht wie andere durch Arschleckerei. Das Ergebnis: Wir mußten aus dem Eigentumshaus wieder in ein betriebseigenes ziehen. Der Betrieb war nicht weit entfernt, aber nicht zu sehen. Er lag unter der Erde eines Waldes. Da viele Männer zur Wehrmacht einberufen wurden, gab es Arbeitsplätze für Frauen in den Rüstungsbetrieben. Sie stöhnten zwar unter der Akkordarbeit, aber standen in der Heimat ihren Mann. Alles für "Führer, Volk und Vaterland". Mein Vater war "uK" (unabkömmlich) gestellt. Meine Mutter hatte früher schon hart arbeiten gelernt, verdiente jetzt einen guten Akkordlohn. Das Geld war für uns. Uns ging es gut. Da war uns "Führer, Volk und Vaterland" zunächst egal.
Nur bei mir langte es nicht zur Oberschule wie bei Nachbars Sohn. Immerhin kam ich in die Mittelschule und sogar zu einem Aufnahmeantrag fürs Jungvolk. Der wurde ausgefüllt, ohne mich zu fragen. Ein deutscher Junge gehört dem Führer und bißchen Schliff und Härte täten mir gut. Naja, die schmucke Uniform und erst das große Fahrtenmesser gaben Trost und etwas Mut.
Eines Tages kam Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der Wüstenfuchs, nach erfolgreichem Sieg seines Afrikakorps, in einen Rüstungsbetrieb der Stadt zu Besuch. Mein Klassenlehrer musste einen schlanken blonden Jungvolkjungen schicken der ein Gedicht aufsagt. Die Wahl viel auf mich. Das Gedicht lobte den Helden, nicht seine Soldaten. Der Saal war voll von SA-Leuten. Zackig trat ich ein, erwies mit ausgestrecktem Arm den Hitlergruß und schnurrte die drei kurzen Strophen herunter. Rommel nickte dankend. Er war klein von Wuchs. Ich hatte ihn mir größer vorgestellt. Noch einen zackigen Gruß und ich konnte abtreten. Ein Pimpf erwartet kein Lob oder Dank.
Ich hatte nun neue Kameraden, gehörte zu ihnen.
Aber waren es die richtigen Freunde? Der regelmäßige Mittwochsschliff, verbunden mit blödsinnigen Mutproben, wie Magendrücken bis zur Ohnmacht, kotzten mich an. Noch mehr die Wochenendlager mit Geländespielen, wobei es blutige Nasen und zerrissene Uniformen gab. Im Dreck sielen ist schweinisch, hat nichts mit Menschlichkeit zu tun. Wie sieht ein junger Mensch aus, mit flinken Beinen wie ein Windhund, eine Haut zäh wie Leder, mit einem harten Kopf aus Kruppstahl? Utopie des kranken Hirns eines Dr. Frankensteins? Nein, Wunsch des Führers.
Es sei die künftige Herrenrasse. Ob ich so würde, wußte ich nicht. Auf jeden Fall gut, dazuzugehören. Ich gehörte dazu. Wollte sogar Jungschaftsführer werden mit schmucker rot-weißer Schnur von der Brusttasche bis zum Hemdenknopf. Daraus wurde nichts. Für jede Dienstteilnahme gab es in eine Karte einen Rautenstempel mit Hakenkreuz. Als in meiner Karte zwei fehlten, kam der Fähnleinführer. Er ermahnte meinen Vater zu seiner Aufsichtspflicht und den Folgen für ihn bei deren Vernachlässigung. Vaters Belehrung: "Junge, gehe hin. Mir paßt auch vieles nicht, muß es trotzdem machen. Schwimme mit dem Strom, damit du durchkommst und sieh zu, daß du die Kurve kriegst."
Ich bekam die rot-weiße Schnur nicht aber die Kurve. Eines Mittwochs kam ein Jungzugführer zu unserem. Beide mit grünen Schnuren. Aber der andere hatte dazu noch rot-weiße sogenannte Schwalbennester. Sie tuschelten kurz miteinander, dann kam die Frage: "Wer von euch bläst ein Instrument?" Kurzer Rippenstoß an meinen Schulfreund und unsere Arme gingen hoch. Wir lernten in der Schule nebenbei Blockflöte. Kommando: "Mitkommen!" In einem ruhigen Park bekamen wir eine Fanfare und die Aufforderung: "Ein C nachblasen!" Beim Großvater hatte ich schon mal einem zerbeulten Signalhorn ein paar Töne entlockt und wußte, daß man die Lippen ins Mundstück preßt im Gegensatz zur Blockflöte. Der Ton war schauderhaft. Aber es hieß: "Fleißig üben, dann kriegt ihr das schon hin." Damit waren wir im Fanfarenzug gelandet. Zackig ging es auch hier zu. Tambour hoch - Fanfare auf den Oberschenkel stellen. Nochmals Tambour hoch - alle Fanfaren gleichzeitig an den Mund. Tambour kreist und zuckt ab - Marsch blasen.
Jetzt macht das "Zackigsein" Spaß, denn es machte Eindruck auf die Mädchen, an deren BDM-Heim wir häufig vorbeimarschieren mußten. Unser kleiner Zugführer, deshalb Ratte genannt, schwenkte fleißig seinen großen Tambourstock und ließ zeitig die "Locke" trommeln. (Ein Vorsignal für die Bläser.) Die Fenster öffneten sich und die Mädchen lachten und winkten. Wem? Wir bliesen aus voller Lunge stolz unseren neu erlernten Marsch. Die Mädchen taten, als wenn sie in Zitronen bissen. Wir verzogen keine Miene.
Später durfte ich sogar beim Empfang des Reichsjugendführers Baldur von Schirach im Capitol von der Empore mit ausgesuchten Bläsern dessen "Reichsjugendführerfanfare" und "Aida" blasen. Da war man doch stolz, deutscher Jungvolkjunge zu sein. Man gehörte dazu, man war dabei.
Nicht so stolz konnte ich auf meine schulischen Leistungen sein. Deshalb saß ich in der ersten Bank vor dem Lehrerpult. Kein guter Platz für einen Schüler, der oft seine Hausaufgaben vergaß und beim Diktat vom Nachbarn abguckte. Der Nachbar saß dort, weil er kurzsichtig, ansonsten aber fleißig war. Wir wurden Freunde fürs Leben. Er war gutmütig, ich listig pfiffig. So ergänzten wir uns gut.
Unser Klassenlehrer war kein strammer Nazi. Er erschien nur zu besonderen Anlässen in Uniform in der Schule. Er schlug auch seltener mit dem Rohrstock als der musikunterrichtende Kantor. Er hatte wohl mehr Verständnis für die Probleme der Kinder und hatte auch eigene Sorgen. Seine Frau war lange krank und starb. Um ihr Grab zu pflegen, brauchte er Helfer. Ich meldete mich sofort und deshalb auch mein Freund. Natürlich erinnerte ich unseren Lehrer meist vor der Rechenstunde, daß wir wieder mal zur Grabpflege mußten. Wir bekamen die Erlaubnis und kehrten erst nach Unterrichtsende zurück. Zur Belohnung entnahmen wir dem Lehrerschrank eine Rolle Cebion-Zucker von dem jedem Schüler eine Tablette wegen der wichtigen Vitamine zustand. Also kein echter Diebstahl.
Der Sieg ging voran. Auch wenn jetzt Göring "Meyer II" hieß, weil immer mehr alliierte Bomber unsere Städte zerstörten. Auch unsere Siedlung wurde nicht verschont, dafür aber das gleich daneben im Wald liegende Motorenwerk. Trotzdem wurden plötzlich alle Ingenieure, Entwickler und Erfinder versetzt. Mein Vater gehörte dazu. Er versprach, uns nachzuholen. Meine über den Krieg verzweifelte Mutter wurde noch von ihm ermahnt, über nichts zu sprechen, sonst kämen wir alle ins KZ. Was das ist, wußte ich nicht. Aber der alte Mann mit dem "P" im auf der Spitze stehendem Viereck an der Jacke, der auf Knien die Pflastersteinchen unseres zerstörten Fußweges setzte und zurechtklopfte, wußte es vielleicht.
Oft mußte er sich ermattet auf unsere Treppe setzen. Ich legte ihm heimlich mein Schulbrot hinter die Tür. Er blickte dankbar auf, nahm es aber nicht. Erst als ein abseits arbeitender Pole den jungen deutschen Soldaten ablenkte, griff er hastig zu und ließ es in seiner Jacke verschwinden. Als ich meiner Mutter das erzählte, war sie entsetzt. Ich solle das nie wieder tun, es hätte der Tod des Mannes sein können und uns ins Gefängnis gebracht. Müssen Sieger ihre Gefangenen verhungern lassen? Sie haben doch genug Beute gemacht. Zweifel kamen bei mir auf über die stolze Herrenrasse. Nun gut, Tote hatte man schon genug gesehen. Man geht darüber hinweg, solange man sein eigenes Leben retten muß. Also weiter siegen! Dann geht es uns auch weiter gut.
Helfer hatte das Deutsche Reich genug. Das merkte ich, weil mein Vater mir sein Hobby, Briefmarken sammeln, beigebracht hatte. Ich sammelte zuerst Europa. Das war günstig, denn in der Nähe unserer Siedlung gab es ein Barackenlager, in welchem Italiener untergebracht waren. Mein Schulfreund sammelte auch. Der Pförtner ließ uns Kinder passieren, wenn wir ihm sagten, daß wir nur Briefmarken holen wollten. Dann waren aber die Italiener weg und kriegsgefangene Franzosen im Lager. Die Wache wies uns ab. Aber französische Briefmarken reizten und wir waren schlanke Kinder, die durch die Zaunlücken paßten. Dann waren Ostarbeiter im Lager und wir sammelten Generalgouvernement. Einige Zeit später war auch das vorbei. Der Zaun war dicht. Dahinter zusätzlich Stacheldraht mit Warnschildern vor Starkstrom und Schußgefahr. Nun interessierte uns das Lager nicht mehr.
Irgendwie änderte sich aber auch die Lage. Wir räumten unsere Schule
aus. Sie wurde Lazarett. In der anderen Schule hatten wir nur wenige Stunden Unterricht, dann fiel er ganz aus. Fast nur noch Fliegeralarm und Luftschutzkeller. Da durfte mein Vater uns zu sich holen, ins schöne bewaldete Isergebirge im Sudetenland. Es gehörte ja schon lange zum Deutschen Reich. An Briefmarken sammelte ich jetzt Böhmen und Mähren. Doch komisch, in der dortigen Bürgerschule wurde ich "Reichsdeutscher" genannt und außerdem noch dumm, weil ich durch den Schulausfall fast nur Fünfen in den Arbeiten erlangte. Trotzdem saß ich nicht in der ersten Bank, sondern in der Mitte neben einem Mädchen. Das war ungewohnt und irritierte mich. Ich war noch nie in einer gemischten Klasse. Aber sie ließ mich nicht abschreiben. Sie war langhaarig, blond und blöd. Ob auch das eine Lebenserfahrung prägt? Das soll jeder für sich selbst einschätzen.
Aber es schien mir, als gebe es in dieser Gegend viel mehr SA-Männer als in unserem deutschen Wohnort. Wir hatten eine kleine Wohnung in einer großen Villa. Deren Besitzer wurde von Vater "Bonze" genannt. Nun war Vater auch nicht drumherum gekommen und mußte 1944 in die NSDAP eintreten. Ich weiß nicht, ob er sich dafür schämte, denn regelmäßig mußte ich statt seiner mit der Sammelbüchse in der Nachbarschaft die Spenden eintreiben. Ich schäme mich heute nicht zu sagen, daß ich einmal die Sammelliste fälschte und aus 50 Reichsmark 5 Reichsmark machte.
Zum Jungvolk mußte auch dort ein dummer Reichsdeutscher wieder. Ich wollte nicht. Einen Fanfarenzug gab es nicht. Mein Vater riet mir, zur Modellbaujugend zu gehen. Das war interessant und bildend. Wir bauten Segelflugzeuge und Schiffsmodelle. Den Schießunterricht mit Luftgewehr und Kleinkaliberpistolen absolvierten wir im Keller eines deutschtreuen Tschechen, mit dessen Sohn ich in eine Klasse ging. Ich schoß nicht schlecht. Da war man doch wieder stolz, Deutscher zu sein und wenigstens etwas zu können.
Plötzlich hieß es für mich wieder, packen. Mein Vater brachte mich zu den Großeltern ins Steinkohlegebiet. Hier sei es sicherer als in der Tschechei. Außerdem müsse er dort auch bald wieder weg. Jetzt ging es in der Schule wieder besser, wie ich ihm bei seinem späteren kurzen Besuch freudig berichten konnte. Nach meiner Spendenlistenfälschung befragt, log ich. Sie hatte ihn in ein großes Dilemma gebracht. Er hat sich herausgezogen. Jetzt ist er tot, jetzt schäme ich mich der Lüge, nicht des Betrugs. Ich kam mit Abschluß der 8. Klasse aus der Schule. Meine Klassenkameraden gingen zur Konfirmation. Auf Bezugsschein hatten wir einen Konfirmationsanzug erhalten. Mein Vater gab das Geld. Ich ging nicht zur Konfirmation, sondern im Nachbarort ins Kino und ein dunkles Bier trinken. Zurückgekehrt gab es einen von Oma gebackenen Zuckerkuchen. In friedlicher Familienrunde hat er mir besser geschmeckt, als beim sudetendeutschen Bonzen die Mohnbuchtel. In der Schule hieß es dann: "Ihr braucht vorläufig nicht mehr zu kommen. Wir sehen uns wieder, wenn der Feind zurückgeschlagen ist."
Auf dem Heimweg kam mir dann auf der Straße eine Marschkolonne entgegen. Graue schwankende Gestalten, einheitlich in gestreifter Jacke, Hose und Kappe gekleidet. Daneben gingen in Abständen junge deutsche Soldaten mit dem Gewehr unter den Arm geklemmt. Kein Wort wurde gesprochen. Nur die Holzpantinen klapperten und von den Marschanstrengungen war leises Stöhnen zu hören. Einige stützten sich gegenseitig. Alle hatten den Kopf gesenkt. Eine sehr disziplinierte Einheit. Man marschierte ja durch eine Stadt und die Deutschen waren schließlich militärische Disziplin gewöhnt.
Ungewöhnlich beeindruckt und erschrocken wich ich an eine Hausmauer zurück, bis dieser gespenstige Zug vorüber war. War das der Feind? Wo kamen die her? Wo gingen sie hin? Weit soll es nicht gewesen sein. Es ging das Gerücht um: Einige Orte weiter habe man aus einer Kiesgrube Schüsse gehört und dort gebe es auch ein Massengrab. Was nun? Stolzer Deutscher sein oder nicht?
Von meiner Mutter kam mal eine kurze Nachricht: Vater sei mit dem letzten Zug evakuiert worden. Wo er jetzt arbeitet, sei geheim. Sie sei zu Fuß auf dem Rückmarsch - wie hunderttausende Flüchtlinge.
Meine Großeltern nahmen eine Familie auf. Eine 90-jährige Frau mit Tochter, intelektem Schwiegersohn und deren Tochter. 8 Personen in Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche. Man half sich, respektierte sich, aber es gab auch Reibereien. Opa nannte den Mann eines Tages "verkappten Nazi". Alle waren froh, als diese Familie dann ein kleines Eigenheim bekam.
Auf dem Rückmarsch schienen auch deutsche Soldaten zu sein. Immer mehr kleinere Einheiten machten in unserer Bergarbeitersiedlung kurze Rast. Opa lud einzelne Soldaten ein, sich zu waschen und eine Tasse Malzkaffee zu trinken. Dafür gab es manchmal eine Zigarette und die Auskunft, daß neue Stellungen bezogen würden. Also kein Rückzug, sondern Frontbegradigung und weiter kämpfen. Das machte Mut und Haß auf die Feinde. Diese hatten nun in der Nacht auch noch Dresden bombardiert.
Am Himmel konnten wir den Feuerschein sehen. Als sie am Tage auch noch einen zweiten Angriff flogen, stand ich in Opas Garten und beobachtete die Flugzeuge. Versteckt in einer aufrechtstehenden Zinkwanne prüfte ich Schärfe und Spitze meines Fahrtenmessers, falls mal ein abgeschossener Fallschirmspringer herunter käme. Es kam keiner. Dafür kamen eines Tages einige amerikanische Jeeps durch unsere Siedlung. Sie machten dort Halt, wo vor kurzem die deutschen Soldaten rasteten.
Die Amerikaner betrieben Aufklärung und fuhren weiter in Richtung Nachbarort.
Plötzlich bekamen sie von einem davor liegenden Hügel Maschinenge-wehrfeuer. Schnelle Wendung und mit hohem Tempo zurück. Ergebnis: Über unsere Siedlung orgelten Artillerie- und Panzergranaten und zerstörten die Häuser am gegenüberliegenden Hang. Danach kamen Panzer mit aufgesessenen Soldaten, darunter auch Schwarze. Am Fuße des Hanges saßen alle ab und stürmten in Gruppen den Hügel hinauf. Als sie wieder Feuer bekamen und einige Verwundete hatten, zogen sie sich eilig zurück.
In der Siedlung hieß es nun, nicht im Ort, sondern im Steinkohlenschacht habe sich die deutsche Armee festgesetzt. Die Amerikaner seien zu feige zu kämpfen und könnten den Schacht nicht einnehmen. So schien es zu sein, deshalb zerschossen sie den Ort. Für mich schien es aber auch Zeit, meine Jungvolkuniform samt Fahrtenmesser zu beseitigen. Im Garten wurde alles heimlich vergraben.
In Bergbaugebieten gibt es Abraumhalden. Bei uns gab es eine abgetrocknete Schlammhalde, auf welcher wir immer Fußball spielten und zu Omas Leidwesen immer schwarz wie Neger nach Hause kamen. Weiterhin gab es eine rote Gesteinshalde, die dicht mit Birken bewachsen war und für uns "Indianer" gute Verstecke bot. Über diese war für mich der kürzeste Weg vom Garten nach Hause. Als ich diesen Weg wieder einmal nutzte, hörte ich plötzlich leise Pfiffe. In einem Gebüsch sah ich einen deutschen Stahlhelm und eine Hand, die mich heranwinkte. In einer gut getarnten Kuhle lagen ein Leutnant, drei Soldaten und ein Maschinengewehr. Sie beobachteten den Ort, von dem aus die Amerikaner ihre Angriffe vorgenommen hatten. Der Leutnant wollte von mir wissen, ob in dem oberhalb unserer Siedlung liegenden Stadtgebiet noch deutsche Einheiten wären und ob ich einen Meldezettel dorthin bringen würde. Ich traute mir als deutscher Junge nicht, nein zu sagen, und wurde somit Meldegänger der deutschen Wehrmacht. Zum oberen Stadtteil führte ein ehemaliger Bergbahndamm. In dessen Deckung ging ich entlang, bis ich plötzlich von einem tieffliegenden einmotorigen Flugzeug mit Russenstern am Heck Bordwaffenbeschuß bekam. Das war die Hölle. In den Graben geschmissen, fast in die Hose geschissen. Den Meldezettel zerrissen und weggeschmissen. Vorbei war für mich der heldenhafte deutsche Krieg.
Zu Hause angekommen erzählte Opa, Berlin sei gefallen. Nun gehe der Krieg zu Ende. Deutschland liegt in Trümmern, auch die Ortschaft gegenüber unserer Siedlung. Die Verteidiger im Schacht, ein Leutnant und drei Soldaten mit Machinengewehr waren von der vom Beschuß zermürbten Bevölkerung verraten worden. Sie hatten die Amerikaner durch einen ehemals verschlossenen Stolleneingang in den Schacht geführt. Die vier seien erschlagen worden. Das wollte die Bevölkerung sicher nicht. Sie glaubten noch wie alte Germanen an Heldentum und Ritterlichkeit. Vier deutsche Mütter mehr warteten vergebens auf ihre von verbrecherischen Politikern verführten und sinnlos geopferten Söhne. Geblutet haben im Zweiten Weltkrieg die verführten Menschen in fast allen Ländern der Erde.
Endlich hatte die deutsche Wehrmacht kapituliert. Der Krieg war zu Ende. Für die verbündeten Japaner stand die Kapitulation noch bevor. Der "Gröfaz" (Größte Führer aller Zeiten) konnte mit seiner Wunderwaffe die Weltherrschaft nicht erringen. Das erreichten die Amerikaner mit zwei Atombomben auf Japan. Vorher war eine davon auf Dresden geplant. Einige Kriegsverbrecher wurden in Nürnberg verurteilt und hingerichtet. Andere gelangten wieder zu Amt und Würden.
Gott möge ihnen allen vergeben. Er kann es, ich nicht! Waren sie doch alle seine willigen Werkzeuge. Christen, Hindus, Moslems und alle anderen Religionen glauben an einen Allmächtigen, der die Geschicke auf Erden lenkt. Mögen sie ihn Gott, Allah, Mohammed, Lorenz oder wie auch immer nennen. Sie mögen mir verzeihen. Ich kann solch einen Herrscher nicht gut heißen, der soviel Elend über die Erde bringt. Also doch kein religiöses Kind. Millionen Opfer auch noch Jahrzehnte nach dem Krieg. Ich habe den mörderischen Krieg überlebt - Glückskind.
Kriegsende - ein neuer Kriegsbeginn
Die Orte vor und hinter unserer Siedlung waren von Amerikanern besetzt, der obere Stadtteil von Russen. Wir wohnten sozusagen im Niemandsland. Wie sollte es nun weitergehen, woher bekommen wir Lebensmittel? Was wird werden, wenn uns die Russen besetzen? Die Amis sind bisher nur durchgefahren und haben unsere Frauen in Ruhe gelassen. Wann werden sie die wenigen verbliebenen Bergarbeiter abholen? Was wird aus uns Jungvolkjungen? Fragen über Fragen, aber keine Zeit zum Nachdenken. Es begann ein neuer Krieg mit dem Kampf ums Überleben. Dazu gehört Essen. Wir hatten ständig Hunger, so dass wir ihn kaum noch spürten. Schon gaben die Schrebergärten etwas her. Das erste Gemüse kam, Frühkartoffeln zeigten sich. Die Hühner legten Eier und die Kaninchen wurden schlachtreif. Die Großeltern hatten Erfahrungen vom Ersten Weltkrieg her. An allen Friedhofsmauern wachsen Brennesseln und geben eine würzige Suppe. Liebstöckel ist Maggi und wächst am Wegesrand. Kartoffelschalen gemahlen und gebacken ergeben Kartoffelkuchen. Aus dem Kartoffelwasser wird Stärke gewonnen. Sauerampfer, Spitzwegerich, Taubnessel, Lauch geben eine guten Salat. Teepflanzen gibt es genug auf jeder Wiese. Aus Löwenzahnblüten wird Honig, wenn man Zucker hat. Dieser und noch vieles andere fehlte aber doch. Mehl und Salz wurden knapp. Omas Kenntnisse und Wissen halfen uns sehr, aber hatten auch Grenzen. Das es den meisten Menschen in den Städten schlechter ging als uns, war kein Trost. Der Hunger frißt Menschen auf. Weitere Kriegsopfer. Nie wieder Krieg. Im Krieg gibt es nur Opfer.
Plötzlich kamen die Russen in die Siedlung auf den ehemaligen Rastplatz der deutschen Soldaten. Schnell wurden die Fenster geschlossen. Kurz danach wieder vorsichtig geöffnet. Die Russen winkten mit Brot. Zögernd näherten sich einige Jugendliche, nahmen ein geteiltes Brot und rannten davon. Eine Feldküche wurde geöffnet.
Nun trauten sich auch ältere Frauen und Männer mit Töpfen heran. Jedem eine Kelle Kohlsuppe und ein Stück Brot. Die Russen winkten mit freundlichen Gesten und grienten über die ängstlichen Gestalten.
Wer mehr erbetteln wollte, wurde mit drohenden Gebärden weggejagt. Auch ich holte probehalber einen Schlag "Kapusta" und ein Stück Brot. Opa stellte fest, in der Suppe fehle Fleisch, aber das Brot sei gutes deutsches Kommisbrot. In den nächsten Tagen kamen die Russen fast pünktlich immer wieder. Jetzt wußten wir, daß wir zum russischen Gebiet gehörten.
In den anderen Orten lagen die Amerikaner. Die Schächte lagen teils in dem einen teils in dem anderen Gebiet und waren wohl unterirdisch verbunden. Auch wenn sie nicht förderten, mußten sie gewartet werden, um nicht abzusaufen, wie es hieß. Deshalb machten sich täglich einige Bergarbeiter auf den Weg. Sie hatten aber Schwierigkeiten mit den amerikanischen Grenzposten, die nicht verstehen konnten, warum die Männer mit Rucksäcken unbedingt ins russische Gebiet wollten.
Eines Tages kam mein Freund, der die Oberschule besucht hatte, mit einem Kaugummi zu mir. Er war bei den Grenzposten und hatte sich mit seinem Schulenglisch einigermaßen unterhalten. Er habe ihnen auch klar gemacht, was die Männer mit den Rucksäcken wollten.
Dafür hat er eine Packung mit fünf Kaugummi bekommen. Täglich seien aber andere Posten dort, und da würden Dolmetscher gebraucht.
Tags darauf mein Versuch. Meine englische Begrüßung klappte. Ich wurde mit ins Zelt genommen. Eine Feldküche brachte gerade Eierkuchen und die Soldaten waren mit Essen beschäftigt. Ich sah zu. Vom Essen angelockt, waren noch ein paar Kinder gekommen. Gesättigt legten die Amis die übrig gebliebenen Eierkuchen vor das Zelt, einer goß Benzin darüber und zündete die leckere Speise an. Er sah zu, wie sie verbrannte, die Kinder sahen zu, ich sah zu. Damit war mein Besuch bei den Amerikanern beendet.
Die Verdunkelungspflicht war aufgehoben. Außer zeitweiligen Strom- abschaltungen gab es abends wieder Licht. Die Welt sah gleich ganz
anders aus. Herrlich! Die Ausgangssperre wurde auch gelockert.
Lebensmittel beschaffen wurde zur Tagesaufgabe. Einige Geschäfte öffneten. Sie verkauften Restbestände oder aus ehemaligen Staats- oder Wehrmachtslagern freigegebene Waren auf noch vorhandene Lebens-mittelmarken. Da hieß es für uns, früh aufstehen. Um 4 Uhr vor dem Geschäft anstellen, um 8 Uhr kam Oma ablösen, um 9 Uhr gab es dann 1 kg braunen Rohzucker. Aufgabe erfüllt, das Leben ging weiter.
Opa war inzwischen mit dem Fahrrad weit weggefahren. Es hatte sich herumgeflüstert, in der Stadt wird ein Tabaklager geplündert. Das wäre eine Beute. Am Abend war er erfolgreich zurück. Ein gepreßter Ballen mit Rohtabakblättern auf dem Gepäckträger und das Fahrrad hartnäckig verteidigt, war er ausgehungert aber siegreich freudig zu Hause angekommen. Es hätte auch schlimm ausgehen können. Ein Plünderer war von einem aus dem Lager herunter geschleuderten zentnerschweren Ballen erschlagen worden. Eines von vielen Nachkriegsopfern.
Uns ging es wieder gut, wir hatten zu rauchen. Wir, das waren Opa und ich. Weil ich fleißig mit einem alten Schuhmachermesser Tabakblätter fein schnitt, trocknete und mit Geheimtropfen fermentierte, durfte ich auch mal eine Zigarette drehen und versuchen. Auf Lunge gings nicht, das verursachte Husten und bei Opa Gelächter. Aber angeberisch vor meinen Freunden wurde eben gepafft. Hätte ich es doch nie getan, sage ich mir heute. Bastard!
Plötzlich kam mein Vater. Mit seinem Fahrrad war er weit aber gut auf der Autobahn gefahren. Angst hatte er, wenn ein Ami-Jeep kontrollierend langsam neben ihm fuhr, doch dann Erleichterung, wenn dieser den Gang einlegte und abbrauste. Nun sollte ich nach Hause geholt werden. Mutter sei auch schon da. Aber in der Wohnung hätten die Amerikaner gehaust, den vorsorglich im Keller gelagerten Konfirmationsobstwein ausgesoffen und seine Briefmarkensammlung im Luftschutzkeller verstreut. Glück im Unglück. Die versoffenen Säcke hatten von den Werten keine Ahnung und das Meiste sei zu retten gewesen.
Der Heimmarsch begann. Stückweise auf der Querstange des Rades, da tat der Hintern weh. Bergauf zu Fuß taten die Füße weh. Ein Stück auf der Autobahn ging es. Dann gaben die Schläuche die Luft ab. Nun gingen wir, abwechselnd das Rad schiebend, zum nächstgrößeren Ort in der Hoffnung, einen Bahnhof zu finden. Tatsächlich gab es einen und nach Aussagen des Bahnbeamten fahre auch zeitweilig ein Güterzug. Stundenlanges Warten auf der Bahnhofsbank. Die karge Wegzehrung von den Großeltern, gekochte Eier und ein Kanten Brot, war aufgegessen und der Hunger nagte. Dann kam ein Güterzug. Zwischen den Waggons waren Laufbretter, darauf nahmen wir Platz. Das Fahrrad blieb beim Bahnbeamten. Trotz Müdigkeit immer gut festhalten. Schwarz vom Lokqualm, wer weiß heute noch, was die damals feuerten, erreichten wir unseren Heimatbahnhof am Sonntagnachmittag.
Großer Sieg und Jubel zu Hause bei Muttern. Sonntagskind!
Nun hat uns der Alltag wieder
Zum weiteren Überleben galt es nun für die Familie Nahrung zu beschaffen. Kartoffelstoppeln und Ährenlesen war angesagt und die Erfindergabe Speisen ohne Fett und Fleisch zuzubereiten. In einem Beutel wurden die Körner aus den Ähren geklopft, ausgeschüttet unter heftigem blasen vom Spreu getrennt und in der Ofenröhre schnellgetrocknet. In der Kaffeemühle gemahlen ergaben sie dann einige Löffel Mehl. Dieses mit einer Briese Salz unter den Brei geriebener Kartoffeln gemischt und auf der Herdplatte von zwei Seiten gebacken war ein prima Kartoffelkuchen als Abendbrot für die ganze Familie. Zuckerrüben wurden gestoppelt und manchmal auch unter Lebensgefahr von Güterwaggons geklaut, gesäubert, zerkleinert und ausgekocht. Der Saft unter rühren mehrere Stunden eingedampft erbrachte ein Glas Zuckersirup. Viel Arbeit und Mühe den ganzen Tag. Dafür schmeckte aber damit das trockene Brot und auch der Kartoffelkuchen lecker. Zu alldem wurde Brennmaterial gebraucht. Wer noch nie Baumstubben gerodet und Wurzeln zerkleinert hat, weiß nicht, dass Holz zweimal wärmt. Ich empfehle ihm sein Holz lieber weiterhin teuer zu kaufen. Unser Leben war hart und machte hart. Was unsere Mütter als Trümmerfrauen leisteten kann nicht hoch genug geehrt werden.
Nach Festlegung von Demarkationslinien zogen die Amerikaner aus unserem Gebiet ab und die Russen übernahmen das Regime. Langsam wurde wieder für Ordnung gesorgt. Meldeämter registrierten die Bevölkerung und gaben Lebensmittelkarten aus. Für Selbstschutzorgane gegen Diebe und Plünderer wurden Leute gesucht. Ich meldete mich zum zeitweiligen "Feldschutz". Mit einigen anderen Jungen musste ich im mehrstündigen Wechsel ein Mohnfeld bewachen. Zum Geburtstag hatte ich ein hellblaues Oberhemd bekommen. Nach der Wachablösung stopfte ich es voll Mohnkapseln. Den Mohn konnten wir essen, das Hemd aber vergessen. Die Flecken ließen sich nicht mehr heraus waschen. Flecken und Beulen an Kopf, Arm und Schenkel verursachten auch die rücksichtslosen Knüppelschläge des Verwalters eines ehemaligen Rittergutes. Der erwartete meine Freunde und mich beim wiederholten Apfelklau. Diese Leute verstanden noch den Schutz ihres Hab und Gutes. Mit Mühe entkam ich dem Todschlag. Glückskind.
...fortsetzung folgt...
lg michaela
ot: erzählungen kapitel 4 (lang und -für mich- sehr traurig)
kannst deinem papa mal ausrichten, das buch macht spaß zu lesen. wenn bei den erlebnissen von spaß reden kann. aber ich denke du weißt wie ich es meine. er hat einen angenehme art seine geschichte doch recht locker rüber zu bringen.
sag mal tipperst du das tgl. ab? dann zieh ich mal den hut.
lg
susi
ot: erzählungen kapitel 4 (lang und -für mich- sehr traurig)
vielen dank für deine netten zeilen :-)
ich tipper das nicht jeden tag ab. bevor es in den druck ging, hat mein mann bissel an dem teil rumgefriemelt und deshlab isses aufm pc :-)
lg michaela
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