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ot: erzählungen kapitel 3

3' Kindheitsbilder
Meine Eltern heirateten und nun wurde es besser. Oder gab es auch hierfür andere Ursachen? Das Leben ist ein einziges Rätsel und wie es jeder löst, ist seine Sache. Man muß nur aufpassen, daß man nicht mit den Gesellschaftsordnungen untergeht. Jedenfalls erinnere ich mich der großen Freude, als mein Vater Arbeit fand. Darauf wurde "Einer" mit Freunden der Familie gegossen. Aus den Gesprächen hörte ich, "daß Arbeit das Wichtigste im Leben ist und auf die Gesellschaftsordnung sei geschissen". So etwas prägt sich ein. Was weiß ein Kind schon von Gesellschaftsordnung?
Aber Arbeit kannte ich. Sie bringt Geld, gutes Essen und Vergnügen, z.B. sonntags das Kino. Dort im Vorfilm waren sie wieder, die Braunen mit den steifen runden Mützen. Auch die Schwarzen waren wieder da. Doch jetzt trugen sie Frack und Zylinder und standen hinter dem Braunen mit dem kleinen schwarzen Bärtchen. Sie waren fast so dick, wie der Braune, der neben dem mit dem Bärtchen stand. Also schien es ihnen allen gut zu gehen. Und da ist auf die Gesellschaftsordnung geschissen. Und sie versprechen Arbeit für jedermann. Wer "Jedermann" war, wußte ich auch nicht. Mein Vater hieß nicht so, aber er hatte Arbeit.
Und viele andere bekamen Arbeit beim Reichsarbeitsdienst für fünfzig Pfennig die Woche. Sie bauten vorwiegend Autobahnen. Die Autobahnen konnte man sehen, die Kasernen nicht. Mein Vater sagt. "Wir brauchen keine Autobahn, wir haben gar kein Auto". Als er später eins anzahlte, genannt Volkswagen, wurde er um die 600 Reichsmark betrogen. Er ging lieber in die Flugzeugindustrie, obwohl wir uns auch kein Flugzeug leisten konnten.
Aber der Dicke, der jetzt eine schmucke blaugraue Uniform trug, hatte gesagt: "Die Zukunft Deutschlands liegt in der Luft". Als ich später Deutschland in Trümmern sah, fiel mir dieser Satz ein und ich erkannte, wieviel Zweideutigkeit in Politikeraussagen stecken kann. Darum glaube ich auch heute noch, daß wir keine Eurofighter brauchen.
Andere sagten dann: "Seefahrt tut not". Sie trugen schöne blaue Uniformen mit vielen goldenen Streifen und verziertem Dolch. Das gefiel mir. Ich wäre gern zur See gefahren. Aber mir wurde immer schon im Zug, in der Straßenbahn und bei einer Elbschifffahrt schlecht, ich kotzte. Sie hatten später auch mit ihren U-Booten ihre Not und heute bin ich froh, kein Seemann geworden zu sein.
Es wurde jedenfalls besser. Der Konzern, für welchen mein Vater arbeitete, hatte etwa übrig für seine Arbeiter. Er baute außer Junkers-Flugzeugen noch Siedlungshäuser.
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Wir zogen in diese Stadt und in ein solches mit Gartenparzelle hintendran. Die Straßen waren nach Richthofen und Boelke benannt. Die Gartenparzelle erwies sich später als vorteilhaft.
Als die Lebensmittelmarken eingeführt wurden, hatten wir zusätzlich Kartoffeln, Gemüse und etwas Obst. Bei einer Betriebsfeier gewann mein Vater dann an der Tombola eine lebende Gans. So war auch für Fleisch gesorgt. Sie wurde "genudelt" und sollte Weihnachten dran glauben. Vater hatte schon früher Karnickel geschlachtet. Er stach sie unter dem Hals ab und ließ sie ausbluten. Die Gans hatte einen langen Hals. Sie wurde oben in den Kopf gestochen. Das nahm sie übel und flog davon. Eingefangen tat sie uns allen leid. Also kam ein Pflaster drauf. Später half ihr ein Nachbar, sie von dem Leiden zu erlösen.
Zu Weihnachten bekam ich ein halbhohes Herrenfahrrad, eine Burg mit vielen deutschen Soldaten und eine Flak, die Gummibolzen verschoß. So gut ging es uns. Mein Nachbarfreund bekam nur Soldaten. Nach Weihnachten stellte mein Vater fest: "Fürs Fahrrad sei ich zu klein und zu doof." Es wurde billigst an den Nachbarn verkauft, von dem ich als Zugabe noch die Soldaten erhielt. Für noch doofer wurde ich erklärt, als ich zwei Tage später mit meinem Freund auf der Querstange unsere Straße entlang fuhr. Zur Strafe mußte ich in diesem Jahr zu Ostern in die Schule. Angelockt durch Zuckertüte, schmucker Schülermütze, Ranzen mit Schiefertafel und Geschenken ergab ich mich dem Schicksal.
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Auch noch später, als Erwachsener, fällt man oft auf so etwas herein. Versaut wurde mir das Fest durch einen Cousin. Er nannte mich "kleiner Scheißer" und schenkte einen Nachttopf mit Senf und einem Würstchen drin. Oft quälte ich mich noch auf diesem, denn ich war ein kränkliches Kind. Leibschmerzen wurden mit fürchterlich schmeckendem Rizinusöl behandelt. Der schlechte Geschmack blieb trotz des hinterher verabreichten "Vanillebolchens" (Bonbon).
Was mir schwer fiel, ging einem anderen Jungen bei der Schuluntersuchung leichter. Wir saßen im Hemdchen auf der Arztbritsche, zitternd vor Kälte. Da ging es bei ihm nach hinten los. Sein bleibender Spitzname: Egon Kacker.
Schreiben auf der Schiefertafel war für mich eine Quälerei. Vater wischte sie immer wieder ab mit den Worten: "Der lernt es nie". Er schien recht zu haben. Als ich das Buch "Die Welt der Azteken" geschenkt bekam, las ich "Die Welt der Insekten". Großer Anschiß trieb die Tränen in die Augen, die Buchstaben verschwammen. Immer wieder las ich "Insekten". Ich brauchte das Buch nicht zu lesen, es wurde zerrissen.
Trotzdem ging ich gern zur Schule, denn auf dem Heimweg gab es mit den Klassenkameraden viel zu entdecken. Eines Tages sahen wir ein Geschäft mit zertrümmerten Schaufenstern, einen Stern an der Hauswand und Blut auf der Eingangstreppe. An der Tür stand: "Kauft nicht bei Juden!" Nun, wir kauften nicht bei Juden, weil es in unserer Siedlung kein solches Geschäft gab. Aber irgendwie setzte sich der Gedanke fest, daß Juden etwas schlechtes sein müssen. Auch als ich hörte, wie Vater hinter vorgehaltener Hand der Mutter erzählte: Eine Siedlungsstraße weiter hat man einen uns Bekannten erschlagen, weil er Jude war. Vielleicht ist das so etwas, wie die Zigeunertruppe, der wir Tage später in unserer Stadt auf dem Weg von der Schule nach Hause begegneten. Einige Kinder liefen nebenher und riefen: "Wir holen den Besen, wir holen den Besen!" Daraufhin liefen die Zigeuner schneller. Ich meinte, sie hätten vor dem Hexenbesen Angst. Ein Schulkamerad klärte mich auf: Sie meinen den bösen Polizisten. Es war schon eine gruselige Zeit. Noch schlimmer wurde es, als wir eines Tags durch dreckige zerschlagene Kellerfenster abgeschlagene Köpfe und Rümpfe ohne Arme erkannten. Gott sei Dank, es war nur ein Museumsverließ.
Doch Angst machte das schon.
Wir kamen auch an einem Gebäude mit großem Hof und Sportplatz vorbei. Auf dem Hof marschierten etwas ältere Jungen als wir um einen Mast mit Fahne. Sie trugen braune Hemden und einige hatten lange Messer an der Seite hängen. Das machte Eindruck. Sie sangen: "Wetzt die langen Messer, wetzt die langen Messer . . ." Ich glaube, das Lied hatte wieder etwas mit den Juden zu tun. Mein Vater sagte, das sei eine NAPOLA (Nationalpolitische Erziehungsanstalt). Ihr sollte ich fernbleiben. Dorthin kämen nur die Schulbesten und außerdem sei ich zu kränklich und schwach.
Im Winter hatte ich erst einen schlimmen Keuchhusten dank Lebertran und Arzt überstanden, der riet: "Warm anziehen und immer raus in die Kälte. Der Junge braucht frische Luft." Da ich trotz Kotzen tapfer Lebertran schluckte, bekam ich etwas Taschengeld und durfte allein zum Schützenfest. Am Glücksrad hatte ich Glück. Ein Gewinn zur freien Auswahl. Was wurde gewählt? Ein Fahrtenmesser aus Blech mit Raute und Hakenkreuz, wie es die Jungen mit dem braunen Hemd trugen. Als ich es zu Hause stolz präsentierte, griff sich mein Vater nur an den Kopf. Doch Vater war Sportsmann genug und meinte, wenn schon lange Messer, dann lieber Säbel. Er fertigte zwei aus Holz und lehrte mich fechten. Das war gut. Ich riß dann auch nicht mehr aus, als zwei braune Jungs mir Prügel anboten, sondern hielt sie mir mit einem Stock vom Leibe. Als die Säbel zerbrochen waren, lehrte er mich boxen. Handtücher um die Hände gewickelt und in Fausthandschuhe gesteckt droschen wir aufeinander los. Ich war schnell und entging seinen gebremsten Schlägen. Manches Mal wich ich auch nicht aus, lief in seinen Schlag. Dann rang er sich eine Bemerkung ab, wie: Mut hat er, er will sich verteidigen. Angst und Mut förderten bei mir vielleicht Reaktionen, die mir im Leben oft aus schwierigen Situationen halfen.
Auch etwas Pfiffigkeit und sich durchmogeln gehört zum Leben. Das erkannte ich im Mai 1938, als es hieß, in der Nachbarstadt wird das Nationaltheater eingeweiht und Hitler gibt sich dazu persönlich die Ehre.
Alle Betriebsangehörigen mit ihren Familien mußten geschlossen mit dem Zug dahin fahren, um die Verbundenheit zwischen Volk und Führer zu dokumentieren. Wer da fehlt, fällt natürlich auf und kann schnell zum Staatsfeind gestempelt werden. Also Sonntagsstaat anlegen und trotz kaltem Wetter nicht murren und sich sehen lassen. Auf dem großen Platz vor dem Theater stand eine riesige Menschenmenge und übte schon mal das "Heil- und das Losungen schreien". Wir drängelten uns durch den Block der Betriebsangehörigen nach vorn, um einen guten Blick auf den Führer zu haben. Plötzlich war mein Vater der Meinung, "wir hätten genug gesehen und uns hätte man gesehen, wir könnten verschwinden". Dem absperrenden SA-Mann wurde angedeutet, "ich müsse mal", und so gelangten wir durch die Absperrung hinter das Theater. Doch da geschah es. In dieser menschenleeren Straße fuhren zwei offene PKW besetzt mit SA-Leuten heran. Einer stand im Vorderteil. Ich ging zwischen den Eltern an deren Hand. Vater konnte nur noch sagen: "Hitler". Dann zog er mit der rechten Hand den Hut vom Kopf. Mutter beugte sich zu mir herab und zeigte mit der Linken auf "Ihn". Er hielt das wohl für einen Gruß und hob den Arm zu seinem bekannten Gruß. Ich hatte keine Hand frei und so wurde vermieden, "ihn", so wie verlangt zu grüßen. In einem Café bei einem Stück Kuchen und Gelächter meiner Eltern über diesen Trick ging diese Begegnung zu Ende. Der Zug wurde pünktlich zur Rückreise bestiegen. Das durchfrorene begeisterte Völkchen erzählte von einem historischen Augenblick. Doch so nah wie wir stand "Ihm" wohl keiner.
Wo Flugzuge gebaut werden, gibt es auch einen Flugplatz. Vom Betrieb gab es Freiflugkarten für einen Rundflug über Betrieb und Stadt. Wir flogen mit der "Tante Ju" (dreimotoriges Junkersflugzeug "Ju 52"). Das Volk mußte begeistert werden. Auch am "Sonntag-Eintopfessen" nahmen wir teil. Alles mußte geübt werden.
Mein Opa kam zu Besuch. Stolz wurden Haus und Anwesen präsentiert. Feiertagsessen kam auf den Tisch. Seiner Tochter ging es also gut. Nachmittags kam der Eismann mit einem Karren.
Opa war spendabel, ich durfte wählen zwischen einer Eistüte zum Fünfer oder einer großen Waffel für einen Groschen. Die Entscheidung bedurfte keiner Nachfrage. Danach kam der Bierkutscher. Ich lernte, wie man den dicken Brauereigäulen einen harten Brotkanten auf der flachen Hand reicht und Großvater ließ einen Krug Starkbier zapfen. Jetzt wurde polemisiert. Die "Legion Condor" war heimgekehrt. Sie hatten Guernica dem Erdboden gleichgemacht, die Zivilbevölkerung im Feuersturm verbrannt. Nur Picasso nicht, der dieses Inferno in seinem weltbekannten Bild zur Schande der Deutschen festhielt. Die internationalen Freiheitskämpfer hatten verloren. Österreich war dem Reich einverleibt, Sudetenland und dann die Tschechei besetzt, England und Frankreich hatten sich mit Polen verbündet, Deutschland mit Italien und Japan. Opa meinte, das riecht nach Krieg und Krieg ist für die Arbeiter nicht gut. Das habe er am eigenen Leibe gespürt.
Kaum war Opa wieder weg, da wurde es dunkel. Vater brachte Rollos aus dickem Papier an den Fenstern an, außen schwarz, innen braun, Scheißfarben. Abends wurden die Straßenlaternen ausgeschaltet und einmal in der Woche gab es ein Angst einflößendes Sirenengeheul, Probealarm. Kennst du das Geräusch auch?
Die Dunkelheit hatte auch etwas Gutes. Ich machte meine ersten Mädchenbekanntschaften. Uns schräg gegenüber wohnte ein solches. Ihre Eltern schienen etwas Besseres zu sein. In ihrem Reihenhaus wurden die Wände durchgebrochen und so hatten sie eine Doppelwohnung. Die Mutter wurde mit "von" angesprochen und ihr Mann hatte in dem Betrieb, dem die Siedlung gehörte, etwas zu sagen. Er trug auch bei jeder Gelegenheit die braune Uniform mit der Armbinde, die ein schräges Kreuz mit Haken hatte. Dazu einen schräg hängenden Dolch am braunen Gürtel. Das sah gefährlich aus und trug dazu bei, daß ihn mein Vater immer höflich hutziehend grüßte. Aber ansonsten vermieden meine Eltern jeglichen Kontakt, der sonst mit unseren anderen Haus- und Gartennachbarn üblich war. Die Tochter hatte blonde dicke Zöpfe. Unvoreingenommen von der Haarfarbe interessierte sie mich, weil sie damit auffiel. Ebenso mit ihrer blitzsauberen weißen Bluse und kurzem schwarzem Rock. Es ergab sich, daß wir plaudernd spazierend und zeitweilig die Bordsteinkante hoch und runterhüpfend ans Ende unserer Straße gelangten. In der Abenddämmerung wurde es kühl und plötzlich erklärte sie mir, ein "kleines Geschäft" machen zu müssen. Ich riet ihr, einfach in das vor uns liegende Spargelfeld zu gehen. Doch da mußte ich erkennen, daß ich über Frauen nichts wußte. Somit wurde ich belehrt, sie habe kein Papier mit und ihre Mutti verlangt, daß sie sich immer Papier vor die "Pipi" klemmen soll. Eilig rannte sie nach Hause. Damit war der Abend beendet und unsere Bekanntschaft auch.
Ganz anders war da Fiebichs Lottchen, die zwei Hauseingänge neben uns wohnte. Ihre Eltern sprachen Dialekt mit auffallenden Zischlauten und rollendem "R". Sie waren irgendwelche Rückkehrer ins Reich. Als wir einmal von der Kino-Nachmittagsvorstellung im Dunkeln nach Hause gingen, sagte sie: "Ich muß mal pinkeln." Weil ich auch mußte, stellte ich mich an einen Baum, sie hockte sich daneben ins Gras. Da sah ich den "kleinen Unterschied", der mich später oft nicht schlafen ließ. Leider war damit auch diese Bekanntschaft zu Ende. Wir verzogen. GZ, SZ: Gute Zeiten, Schlechte Zeiten?
Mein Vater hatte seine Meisterprüfung bestanden, ein Fernstudium absolviert und war im Beruf aufgestiegen. Mutter war das Frauchen am Herd geblieben. Die Eltern väterlicherseits waren gestorben, ohne bei mir große Trauer hervorzurufen. Der Zweite Weltkrieg, vom guten Großvater vorausgesagt, hatte begonnen. Mehr sagen, konnte er nicht. Die Auswirkungen des Krieges bis ins neue Jahrtausend hätte auch Nostradamos nicht voraussagen können. Unsere Generation mußte ihre Erfahrung selbst machen.
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… fotsetzung folgt…
lg michaela
Bisherige Antworten

ot: erzählungen kapitel 3 (einschleich aus ET Sept/Okt)

Hallo Michaela,
super interessant. Bitte weiter einstellen und vielen Dank für die Mühe und Zeit...
LG Aeonflux

es freut mich, dass hier auch "fremdgelesen" wird :-) lg michaela

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