Simon zählt.
Eigentlich zählt er, seit er angefangen hat zu sprechen; unter den ersten fünf Wörtern war ein deutliches "eis-dei-deis" zu vernehmen. Mit drei Jahren war zu sehen, dass er Mengen bis 5 erfassen kann, die zugehörigen Zahlwörter verwendete er aber nicht. Noch heute (zumindest bis gestern kann ich es bezeugen) zeigt er sein Alter mit den Fingern anstatt es zu nennen.
Zwischenzeitlich verweigerte er alles Vorzählen (ich zähle gern mal Treppenstufen in Zehnerpaketen, wenn wir in den 3. Stock hochkrauchen; pro Absatz sind es 10 Stufen), fing aber im Spätsommer an, wenn er sich ungestört fühlte, Eisenbahnwagen etc. zu zählen. Bislang fehlte dabei immer die eine oder andere Zahl. Seit ein paar Tagen sind 1-10 plötzlich verlässlich da. Ich dachte, er würde jetzt weiterzählen wollen - meine bisherige Vorstellung war, dass Kinder, wenn sie mal angefangen haben zu zählen, so weit zählen wollen, wie sie können. Aber nein. Simon setzte bei 10 eine Zäsur - und entdeckte, dass er praktischerweise genau 10 Finger hat. Der Unterschied ist nicht zu übersehen: er sagt nicht nur die Zahlen bis 10 auf, sondern er hat begriffen, was 10 ist und ist damit erst einmal beschäftigt.
In den letzten Tagen saß er oft einfach nur rum und zählte glücklich seine Finger; was über 10 hinausgeht, ist völlig uninteressant. Ich schwer begreifende Mutter habe das erst gestern abend so wirklich verstanden (sehr spät, beim dritten Zähneputzen nach ich-hab-aber-doch-noch-Hunger-Anfällen, was bei Simon sehr selten vorkommt) und gleich mal getestet:
"Wieviele Finger sind es denn, wenn du einen Finger versteckst?" - "Diesen Finger?" - "Ja, nimm mal den." - Simon klappte einen Finger ein, zählte - 9. Kurze Pause - Simon fing förmlich an, von innen zu leuchten; ein Bild, das ich eigentlich beim ersten ich-Gebrauch erwartet hätte - und dann ging es los: zwei Finger verstecken. Zählen. 8. Drei Finger verstecken. Zählen. 7. usw, bis - "Oh. Jetzt ist das kein Finger."
Daraufhin erinnerte ich, dass ich noch einen alten Rechenrahmen rumliegen habe, holte ihn raus - das gleiche Spiel mit dem Rechenrahmen. 10 rote Perlen. 9 rote Perlen und 1 grüne Perle. 8 rote Perlen und 2 grüne Perlen. Ganz zum Schluss zählte Simon noch die Perlenreihen - wieder 10. Da war es fast 23 Uhr und Simon ging ohne ein weiteres Wort ins Bett und schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ich glaube, ihm ist da die Schönheit von Zahlen aufgegangen.
LG Iris