Alex 84
Alex hatte sich von Hannah verabschiedet und war auf dem Weg zurück nach Hause. Seit Hannah in die andere Richtung gegangen war, fühlte sie sich mit jedem Schritt, den sie auf ihre eigene Wohnung zu machte, kraftloser. Hatte denn nur Hannah die Kraft gehabt und hatte sie mitgerissen? War sie selbst schon so leer, dass sie sich nicht mehr selbst aufraffen konnte? An einem Schaufenster eines Buchhandels blieb sie stehen. Früher hatte sie viel gelesen, stundenlang mit einem Buch im Bett gelegen und abends spät das Licht gelöscht. Oft genug hatte sie Ärger mit ihrer Mutter gehabt. Und sie hatte sich immer geschworen, dass sie, wenn sie einmal Kinder hatte, ganz anders, viel toleranter, reagieren würde.
Fast mechanisch betrat Alex den Laden. Kochbücher, das war jetzt ihre Lieblingslektüre. Vielleicht sollte sie sich mit dem neuen Buch von Jamie Oliver selbst eine Freude machen? Warum kam Matthias nie darauf, das zu tun, ihr einfach einmal wieder eine Freude zu machen, unabhängig, ob es Weihnachten, Ostern oder ihr Geburtstag war? Wie so oft in der letzten Zeit dachte sie an ihre Ehe. Nicht, dass sie sie für schlecht hielt, aber sie sprachen eben nicht richtig miteinander. Und schon gar nicht offen und ehrlich über das, was sie beide bewegte.
?Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?? Die Verkäuferin war eine ältere gepflegte Erscheinung mit grauem Haar.
?Ich weiß nicht, was ich will?? stammelte Alex unentschlossen. Genauso ging es ihr, sie wusste nicht, was sie wollte.
?Soll es ein Buch für Sie selbst sein oder ein Geschenk??
?Für mich selbst ? haben Sie Kinderbücher??
Die Dame lächelte über das ganze Gesicht, ihre Augen strahlten jugendlich und ihr Gesicht zeigte Hunderte von kleinen liebenswerten Fältchen. ?Natürlich. Es ist schön, dass Sie sich ein Kinderbuch kaufen wollen, wir Erwachsenen träumen viel zu wenig, finden Sie nicht?? Einladend ging sie den Weg voraus zu den Regalen, auf denen viele dickseitige Bücher für die ganz Kleinen standen, doch daneben fand sich ein Regal, das weniger spektakulär gebundene Bücher enthielt. ?Hier sind meine besonderen Schätze?.Sie mögen das für vom Alter her unangemessen finden, aber ich genieße an diesen Büchern die phantasievollen Beschreibungen, die ganze Welten vor meinem geistigen Auge entstehen lassen. Und literarisch braucht man die Texte nicht zu verachten, denken Sie an C.S. Lewis, dessen König von Narnia jetzt gerade in die Kinos kommt. Leider sind die Kritiken gar nicht so gut.. aber nach dem Herrn der Ringe ist der Kinobesucher leise Töne vielleicht gar nicht mehr gewöhnt?? Die Verkäuferin blickte sorgenvoll vor sich hin. ?Aber können Sie sich vorstellen, dass Bücher nach wie vor das meistverkaufte Geschenk auch zu Weihnachten sind??
Alex antwortete nicht, aber ihre Augen suchten liebevoll die Reihen der Bücher auf und ab. Und dann blieben sie an einem etwa anderthalb Zentimeter dicken Buch mit rotem Einband hängen. ?Mio, mein Mio?, sagte sie romantisch verklärt.
?Ein wunderbares Buch, Astrid Lindgren hat die Gabe, Kinder wie Erwachsene mit Worten zu fesseln.? nahm die ältere Dame den Gedankenfaden auf. Normalerweise fand Alex es aufdringlich, wenn Verkäuferinnen neben ihr stehen blieben, wenn sie etwas suchte, doch hier war etwas anderes im Spiel: Sie beide bewunderten die Bücher und hatten die gleichen Gedanken dazu. Das fand man selten.
?Es war immer mein Lieblingsbuch. Einfach wunderschön, die Geschichte?, erklärte Alex.
?Wie wäre es, wenn Sie sich mit ein paar Büchern in die Lesecke zurückziehen, und ich bringe Ihnen einen Kaffee. Es ist ja nicht so viel los heute, da kann ich mich schon etwas um Sie kümmern?? Die Verkäuferin lächelte ihr aufmunternd zu, und zunächst zögerlich, dann befreit lächelte Alex zurück und sagte: ?Warum eigentlich nicht?? und nahm ein paar Bücher mit zu dem kleinen gemütlichen Sofa mit einem Tisch, der genau dazu geeignet war, einer Reihe von Büchern als Ablage zu dienen.
Neben C.S. Lewis und Astrid Lindgren waren es auch Bücher von Selma Lagerlöf und Michael Ende, die Alex sich als Schnupperlektüre genommen hatte. Kurz nachdem sie sich gesetzt hatte, erhielt sie eine Tasse Milchkaffee und einen Keks dazu. Wohlig mummelte sie sich auf dem Sofa ein und begann zu lesen. Die Welt um sie herum verschwand, und sie tauchte ein in die Welt der Kinder, die mit staunenden Augen Neues entdeckten, gut und schlecht unterscheiden lernten und für die Zeit keine Rolle spielte.
?Was liest du da?? fragte plötzlich ein etwa achtjähriges Mädchen, das schon eine Weile neben ihr gestanden haben musste. Sie trug eine Brille und hatte ihr aschblondes glattes Haar zu einem Zopf gebunden. Seitlich wurden die Strähnen von Spangen gehalten.
Alex blickte verstört auf. ?Mio, mein Mio, das ist mein Lieblingsbuch?, antwortete sie wahrheitsgemäß. Die Kleine neigte den Kopf und schaute in das Buch. ?Sind da Bilder drin?? ?Ja, aber nur wenige,. Aber die sind wunderschön. Von Mios Pferd, das ganz silbriges Haar hat. Und von Mios Freunden. Und was liest du?? Alex spürte das Mädchen, das recht nahe an sie herangekommen war und dessen Haare frisch gewaschen dufteten. Überhaupt war das Mädchen sehr gepflegt, und das Buch in ihrer Hand behandelte sie vorsichtig.
?Wir Kinder von Bullerbü.?
?Ach, das ist auch von Astrid Lindgren, wie mein Buch hier auch. Ich finde, sie schreibt sehr schön. Die Kinder aus Bullerbü habe ich auch sehr gemocht.? Sie schaute das Mädchen freundlich an. ?Du bist doch nicht allein hier, oder??
?Nö. Meine Mutter sucht für meinen Bruder was aus?? sie machte eine Grimasse und deutete mit den Kopf auf eine Frau, die einen bockigen Jungen zur Räson zu bringen versuchte. Offensichtlich waren die beiden sich über ein Buch über Dinosaurier nicht einig geworden. ?Wenn der sauer wird, dann wird es gleich laut??, sagte das Mädchen und schaute unglücklich.
?Und, machst du das auch, wenn du sauer bist.?
?Nee, ich nicht, ich gehe dann.? Und genau das konnte sich Alex vorstellen, die große Schwester zog sich dann zurück.
?Weißt du was, ich mache das auch immer, wenn ich sauer bin, dann gehe ich weg. Aber ich weiß gar nicht, ob das gut ist??, sinnierte Alex vor sich hin.
?Ich hab? mal Mama gehört, wie sie sagte, sie würde sich fast freuen, wenn ich mich mal so aufführen würde.?
?Deine Mama scheint eine kluge Frau zu sein?? sagte Alex, die daran dachte, dass so viele Frauen in Konfliktfällen zu schweigsam waren. Und das schloss sie mit ein.
?Hehem, sie ist ja meine Mama.? Entgegnete das Mädchen bestimmt und stolz zugleich.
Die Frau schaue auf und blickte ihre Tochter liebevoll an. ?Insa, kommst du? Ich glaube, wir müssen hier raus? Marc will wohl doch kein Buch?? Die letzten Worte erstickten im Geschrei des kleinen Jungen, der nun unbedingt dadurch seinen Willen durchsetzen wollte, dass er sich vehement auf den Boden warf.
?Tschüss Insa?, sagte Alex und blickte ihr nach. ?Tschüss?, sagte Insa zum Abschied und blickte sie an. Und die Mutter sagte resigniert lachend: ?Wenn ich gewusst hätte, wie der zweite wird, wäre sie ein Einzelkind geblieben, aber zum Glück weiß ja niemand, was das Schicksal so parat hat, und missen möchte ich ihn?, sie nickte in Richtung ihres trotzigen Sprösslings, ?nun auch nicht mehr. Schönen Tag noch?? Mit diesen Worten drehte sie sich um, nahm Insa vertraut an die Hand, packten resolut und etwas ungerührt ihren Sohn an der Jacke und bugsierte ihn unter einer kurzen und wirkungsvollen Ermahnung, die Alex nicht verstand, zur Tür hinaus.
Als Alex sich im Laden umsah, erblickte sie die Verkäuferin, die die Szene amüsiert beobachtet hatte. ?Ich kenne diese Familie seit Jahrzehnten, und die Mutter war genau wie ihr Sohn. Trotzig und starrköpfig. Aber süß?? sie lachte vor sich hin und schüttelte den Kopf. ?Wie sich die Bilder gleichen? Ihre Tante war genauso. Sie ging mit mir in eine Klasse. Tja, so gibt man von Generation zu Generation Charaktere weiter. Meine Mutter sagte immer, man solle sich die Familie des Mannes ansehen, bevor man heiratet.?
?Also, meinen Schwiegervater hätte ich sofort geheiratet, aber der war ja schon vergeben.? Entgegnete Alex und brach damit das Eis der gedankenversunkenen Atmosphäre. ?Und wenn ich mal ein Kind habe, dann wird es entweder verschmitzt wie er oder wild wie ich?, fügte sie trotzig hinzu. ?Ich nehme ?Mio, mein Mio? mit, für meinen Mann, der soll auch ein wenig Zauberwelt erleben.?
?Soll ich es als Geschenk einpacken??
?Ja gerne.?
?Wer Wunder verschenkt, ist offen für eigene?, sagte die ältere Dame sanft und vertiefte sich in das Einpacken des Buches.
Re: Alex 84
Schööööne Geschichte :-))
LG, Cherish
Re: Alex 84
Oh wie schön!!!
Der letzte Satz ist ja wunderschön.
Buchtipp für Dich übrigens: "Als Mama noch ein kleines Mädchen war". Ganz großartig.
Ganz liebe Grüße
Lena, die heute ohne Mann und ohne Kind mit einer Freundin in die Chronik von Narnia geht und gar nix gegen leise Töne hat
Re: Oh wie schön!!!
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