Wenn Sie ein Zwilling-Kind haben...

Der Zappelphilipp aus dem »Struwwelpeter« muss ein Zwilling gewesen sein - denn nur wenige andere Kinder sind dermaßen unruhig und quecksilbrig. Der kleine Zwilling schafft es einfach nicht, still zu sitzen, es ist, als hätte er ein Perpetuum mobile eingebaut, das nicht und nicht zur Ruhe kommt.
Die Mitwelt ist vielleicht der Ansicht, Sie hätten nur ein Kind - Ihren kleinen Zwilling eben. Ihnen hingegen wird es oft so vorkommen, als tobten mindestens Vierlinge durch die Räume.
Das Zwillinge-Kind ist überall gleichzeitig. Schon als Baby krabbelt es in Windeseile durch die Gegend, hier ein Tischtuch - samt daraufstehendem Geschirr zu Boden zerrend, dort etwas Schuhpaste künstlerisch über die Wand verteilend. Zwillinge haben sehr viel Sinn fürs Künstlerische!
Das Zwillinge-Kind macht im allgemeinen mindestens zwei Sachen parallel. Während es in Ihren Armen sein Fläschchen trinkt, verknüpft es Ihre Halskette zu einem gordischen Knoten; dieweil es badet, probiert es die Wasserfestigkeit Ihrer neuen Uhr aus, und sogar beim Schlafen spricht es, lacht es glucksend oder strampelt seine Decke aus dem Bett.
Es ist sinnlos, ein Zwillinge-Kind einsperren oder sonst in seinen Aktivitäten behindern zu wollen! Es ist so früh selbständig und von einem derart ausgeprägten Freiheitsdrang besessen, dass der, der es einzuengen trachtet, auf jeden Fall den kürzeren zieht. Zwillinge überklettern bereits in einem Alter, in dem andere Babys erst wacklig und vorsichtig stehen lernen, das Gitter ihrer Gehschule und umgehen Verbote mit ebensoviel Charme wie Geschicklichkeit... Ein Zwillinge- Kind hat es immer eilig. Es ist ständig in Bewegung, es hüpft und hastet, es zappelt, rennt, dreht sich im Kreis, schaukelt mit dem Stuhl und klettert auf sämtliche Möbelstücke. Unbeweglich zu verharren gelingt ihm einfach nicht, deshalb ist es auf den berühmten Klassenfotos immer nur undeutlich, weil verwackelt zu sehen.
Ausdauernd ist das Zwillinge-Kind nicht gerade. Es hat ein Vorhaben noch nicht beendet, da fängt es schon das nächste an. Es interessiert sich für vielerlei, aber sein Interesse hält nie lange an. Zwillinge-Kinder sind ständig mit hunderterlei Aktivitäten beschäftigt, wovon sie kaum jemals bis zum Schluss durchhalten. Eben hat man mit ihnen noch Tulpenzwiebeln und Blumentöpfe gekauft, weil sie eine so heftige Leidenschaft für die Gärtnerei an den Tag legten - da ist ihnen das Gärtnern auch schon egal und hat einer plötzlichen Vorliebe für das
Malen mit Ölfarben Platz gemacht...
Eltern mag diese Unstetheit des Zwillinge-Kindes manchmal beunruhigen, und tatsächlich sollten Sie sich bemühen, ihm ein bisschen mehr Beharrungsvermögen beizubringen; verzweifeln müssen Sie ob der Flatterhaftigkeit Ihres Zwillinge-Sprosses allerdings nicht. Der vife kleine Zwilling lernt aus seinen angefangenen Unternehmungen eine ganze Menge, auch wenn er sie nicht zu Ende bringt.
In der Schule ist das Zwillinge-Kind lebhaft und aufgeweckt. Es zeichnet sich durch eine bemerkenswert rasche Auffassungsgabe aus. In Windeseile lernt es lesen und schreiben, es ist redegewandt, phantasievoll und verfasst meist die besten Aufsätze der Klasse. Der Zwilling ist imstande, sich Dinge blitzschnell zu merken - sie bleiben allerdings nicht lange hängen. Andere Kinder brauchen drei Tage, um ein Gedicht zu lernen, aber wenn sie es einmal intus haben, dann können sie es bis an ihr Lebensende herunterrasseln. Der Zwillinge-Schüler beherrscht ein Gedicht, sobald er es nur einmal durchgelesen hat - aber nach drei Tagen ist es seinem Gedächtnis wieder völlig entschwunden.
Wie auch im späteren Leben ist der Zwilling schon in der Schule etwas oberflächlich. Er weiß von vielem etwas, doch von nichts viel. Er erfasst intuitiv die großen Zusammenhänge, Einzelheiten hingegen vernachlässigt er. Er blufft gern. Nachdem er drei Seiten im Geschichtsbuch gelesen hat, tut er gelangweilt so, als könnte die Lehrerin ihm beim besten Willen nichts Neues mehr erzählen; weil er eine einzige Novelle von Eichendorff kennt, gibt er sich als ein kleiner Fachmann in der Literatur der Romantik aus; und obwohl ihm Sartre nur vom Hörensagen bekannt ist, scheut er nicht davor zurück, mit seinem Philosophielehrer über den Existenzialismus zu streiten, als hätte er die Weisheit mit dem großen Löffel gegessen.
Die Lehrer Ihres Zwillinge-Sohns oder Ihrer Zwillinge-Tochter werden gelegentlich über dessen Unverfrorenheit klagen. Sie sollten sich darüber allerdings keine grauen Haare wachsen lassen - mit ein bisschen Keckheit kommt Ihr Sprössling jedenfalls weiter als mit Zaghaftigkeit.
Ihr Zwillinge-Kind wird frühzeitig nicht nur rednerisches Talent, sondern auch eine ausgeprägte handwerklich-technische Begabung zeigen. Zwillinge haben flinke und geschickte Finger, außerdem denken sie rasch und logisch, was ihnen auch den Umgang mit der Technik erleichtert. Wenn andere Kinder eine Nähschatulle basteln, wird unter Umständen eine Fingerfalle daraus - dem Zwillinge-Nachwuchs kann so was nicht passieren. Zwillinge-Kinder zerlegen ihr Kofferradio nicht nur, sie setzen es auch - richtig! - wieder zusammen, und wenn sie sich einen tropfenden Wasserhahn vornehmen, dann ist er nachher wirklich repariert.
Auf künstlerischem Gebiet entfalten viele Zwillinge frühzeitig beachtliche Talente. Sie sind Ästheten mit einem ausgezeichneten Geschmack und malen, modellieren oder musizieren häufig sehr gekonnt.
Respektvoll wird sich Ihr Zwillinge-Kind selten benehmen. Im Gegenteil: sein treffsicherer Witz macht vor nichts halt, und es verblüfft schon als Dreikäsehoch durch seine unwahrscheinliche Schlagfertigkeit.
Nicht erst einem Onkel blieb vor Staunen 'über eine ebenso freche wie pointierte Bemerkung seiner Zwillinge-Nichte der Mund offen stehen, und so manche Tante wünschte bereits, sie hätte das Lästermaul ihres Zwillinge-Neffen - zumindest öffentlich - nicht provoziert...
Zwillinge-Kinder finden erstaunlich rasch die schwachen Stellen der Erwachsenen heraus. Sie haben zudem eine starke parodistische Begabung und können Ihre Mitmenschen - indem sie ihnen lediglich ein paar charakteristische Bewegungen oder Redensarten nachmachen - auf vernichtende Weise karikieren.
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie eines Tages in die Schule gerufen werden, weil Ihr Zwillinge-Kind zum Gaudium seiner Klassenkameraden die Lateinlehrerin nachäffte - die Spottlust des Zwillings ist enorm und wird immer wieder durchbrechen. Versuchen Sie der Lateinlehrerin, so gut es geht, klarzumachen, dass derlei Parodien weniger einem bösartigen Herzen als vielmehr einer naiven Lust an der Schauspielerei entspringen, und glauben Sie nicht, dass Sie Ihrem Zwillinge-Kind dieses Vergnügen jemals ganz austreiben können...
Ihr Zwillinge-Sprössling hat eine lebhafte Phantasie. Er fabuliert gern und erzählt Ihnen mit Leidenschaft endlose Geschichten. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie draufkommen, dass ein Großteil der angeblich wahren Vorfälle, von denen Ihr Zwillinge-Kind berichtet, nie passiert ist. Ihr Spross lügt nicht ? zumindest nicht bewusst. Er kann bloß zwischen der Wirklichkeit und dem, was in seiner Einbildung passiert, nicht immer unterscheiden.
Trachten Sie, ihn behutsam auf den Boden der Realität zurückzuführen, aber tadeln und strafen Sie ihn nicht. Er würde sich von Ihnen missverstanden und ungerecht behandelt fühlen.
Ihr Zwillinge-Kind wird Ihnen durch seine heitere, aufgeweckte, lebhaftkluge Art viel Freude machen. Es dürfte allerdings schon früh seine eigenen Wege gehen und keineswegs so sehr an Ihnen hängen, wie Sie es gerne hätten. Zwillinge sind Menschen, die viel Freiheit brauchen. Eine Mutter, die wie eine Glucke über ihn wacht, würde der kleine Zwilling bald ablehnen. Er will nicht gegängelt, beschützt und bevormundet werden, sondern bereits in jungen Jahren möglichst selbständig Entscheidungen treffen und sein Leben so gestalten, wie es ihm passt.
Für die Eltern mag es schmerzlich sein, wenn ein Kind sich so zeitig aus ihrer Obhut löst. Andererseits sollte sie die Selbständigkeit ihres Sprösslings auch freuen. Ein Kind, das nicht hilflos am Rocksaum der Mutter hängt, sondern sich bemüht, sein Leben selber in die Hand zu nehmen, wird sich in der Welt besser behaupten und bewähren als eins, das nur zögernd auf die eigenen Füße kommt.
Zwillinge-Kinder machen ihren Eltern das Dasein nicht immer leicht. Aber sie sorgen wenigstens dafür, dass in ihrem Elternhaus stets was los ist. Langweilig wird's in ihrer Gesellschaft jedenfalls nie.