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Wenn Sie ein Fische-Kind haben...

Andere Kinder brüllen und toben, wenn sie ihren Willen nicht bekommen; sie werfen sich mit rotem Kopf zu Boden, trommeln mit den Fäusten gegen die Schranktür oder beißen vor Wut in den Teppich. Nicht so das Fische-Kind: es ist sanft, verträumt, liebenswürdig und still. Auch während seiner altersbeding­ten Trotzphasen wird es kaum mit den Füßen aufstampfen oder seine Stimmbän­der durch Kreischen übermäßig strapazieren. Fische-Kinder sind weich und nachgiebig, unsicher und häufig unschlüssig. Dressierbar sind sie aber dennoch nicht. Oder ist es Ihnen schon gelungen, Wasser zurechtzukneten? Fische- Kin­der sind wie Wasser: nachgiebig, aber unfassbar; sie bieten nicht viel Wider­stand, aber sie entziehen sich harten Zugriffen, weichen aus, gleiten dem, der zu­packt, sozusagen durch die Finger. Auf diese Art schaffen sie sich einen Frei­raum, in dem sie sich treiben lassen können. Sie sind passiv, und man könnte sagen, dass es gerade diese Passivität, ihre Neigung zu sanftem Streik ist, mit der sie sich letzten Endes genauso durchsetzen wie ihre aggressiveren Altersgenossen - würde das Wort »durchsetzen« nicht die Gefahr eines Missverständnisses in sich bergen.
»Durchsetzen«, darunter versteht man für gewöhnlich das Anpeilen be­stimmter Ziele; aber Fische-Kinder peilen keine bestimmten Ziele an; was sie er­reichen wollen, ist lediglich, dass man sie ziellos dahinleben lässt. Wollte man ge­nau sein, müsste man daher sagen: Fische-Kinder setzen sich auf ihre Weise durch, dass man aufhört, von ihnen zu verlangen, sie sollten Ziele haben, die sie unbedingt durchsetzen wollen. . .
Kompliziert? Tja - warum sollten Sie's einfacher haben als andere Eltern! Die einen müssen mit brüllenden Zornbündeln fertig werden - Sie haben sich eben mit einem Sprössling auseinanderzusetzen, der Ihre Prinzipien durch Sanftmut aufzuweichen droht... Denken Sie noch einmal an den Wasservergleich: Auch Wasser dringt nicht unbedingt mit tosender Gewalt in alle Räume ein; es kann ebenso gut fast unmerklich einsickern und einsickern und einsickern, bis es eines Tages den ganzen Keller ausfüllt. Ähnlich verhält sich Ihr Fische-Kind: Es for­dert nicht lauthals, dass alles sich nach ihm zu richten habe, aber irgendwie wird es irgendwann das Fundament Ihrer möglicherweise sehr strengen Disziplin un­terspült haben, ohne dass es bewusst darauf hinarbeitete.
Sie sind vielleicht der Ansicht, dass kleine Kinder ein möglichst geregeltes Le­ben führen sollten und dass ihr Tag nach einer fixen Ordnung abzulaufen habe. Da werden Sie es schwer haben, Ihr Fische-Kind ebenfalls von dieser Ansicht zu überzeugen. Oder sagen wir es gleich in aller Härte: Es wird Ihnen vermutlich überhaupt nicht gelingen. Ihrem Fische-Sprössling diese Meinung zu oktroyie­ren.
Fische-Kinder hassen es, in ein Korsett von Regeln gezwängt zu werden, sie verabscheuen alles, was nach Routine riecht, und kriegen eine Gänsehaut, wenn sie das Wort »Disziplin« auch nur hören. Ihr ärgster Feind ist die Uhr. Fische-Kinder werden nie einsehen, warum sie täglich um neun schlafen gehen sollen, egal, ob sie nach einer Wanderung todmüde oder aber gerade mitten in der Lek­türe eines spannenden Buches sind... Da Fische-Kinder sich ihren Feinden gern entziehen, »bekämpfen« sie den Feind Uhr, indem sie ihn einfach ignorie­ren. Sie trödeln morgens verträumt im Badezimmer, obwohl sie längst auf dem Schulweg sein sollten, schauen während der Klassenarbeit versonnen zum Fen­ster hinaus, obwohl die Stunde bald zu Ende sein wird und sie von vier Rechen­beispielen erst eins gelöst haben, sie schmökern seelenruhig und versunken in einem Sagenbuch, obwohl sie noch einen Berg Hausaufgaben abzutragen hätten, und hüpfen trällernd sowie aufreizend langsam die Treppe hinunter, obwohl es einen Zug zu erreichen gilt, der am anderen Ende der Stadt fast schon abfahrbe­reit ist.
Das mangelnde Zeitgefühl des Fische-Kindes, seine Unfähigkeit, sich an fixe Regeln zu halten, seine eigenwillige, versponnene Verträumtheit werden ihm oft Schwierigkeiten mit seinen Lehrern eintragen. Das Fische-Kind könnte, wenn es sich nur ein bisschen anstrengte, das beste aller Zeugnisse haben: Es ist klug, sen­sibel, künstlerisch begabt, vielseitig interessiert, erfasst intuitiv und mit schlaf­wandlerischer Sicherheit wichtige Zusammenhänge und ist von liebenswürdigem Wesen, statt - wie andere - ihre Lehrer durch Trotz und Aggressivität vor den Kopf zu stoßen. Leider hat es jedoch die zermürbende Angewohnheit, hinge­bungsvoll phantastische Gemälde anzufertigen, wenn es eigentlich die Fläche von sechs Rechtecken berechnen sollte, im Mathematikheft zu blättern, während seine Lehrerin Geschichte vorträgt, über Religionsprobleme nachzudenken, wenn von ihm erwartet wird, dass es Grätschsprünge über das Pferd macht, und in der Physikstunde Notenschreiben zu üben. Sehr, sehr verständnisvolle und ge­duldige Lehrer werden vielleicht versuchen, es seinen eigenen Weg gehen zu las­sen, aber einige werden voraussichtlich die Nerven verlieren und Ihnen erbit­terte Briefe schreiben. Tragen Sie sie mit Fassung, und halten Sie sich immer wieder vor Augen, dass Ihr Fische-Sprössling nicht böswillig agiert, sondern le­diglich kein Herdenmensch ist.
Stellen Sie sich außerdem darauf ein, dass Ihr Fische-Kind wahrscheinlich im­mer mehr in den musischen als in den realistischen, praktischen, handfesten Fä­chern brillieren wird: Seine Religions-, Philosophie-, Musik- oder Literaturnoten werden vermutlich stets besser sein als seine Zensuren in Wirtschaftsgeographie oder Betriebsführung. Es ist also vernünftiger, wenn Sie Ihren Fische-Spross nicht um jeden Preis zu einer kaufmännischen Ausbildung nötigen, sondern Sie sollten ihm erlauben, sich einen Beruf auszusuchen, der seinen eher schöngeisti­gen Neigungen entgegenkommt.
Im Haushalt wird Ihr Fische-Kind Ihnen kaum jemals eine übermäßige Hilfe sein. Es interessiert sich nicht für »profane« Dinge. Wie man Kuchen bäckt, ist ihm von Herzen egal, und auch das Auswechseln von Sicherungen oder das Flicken von Fahrradschläuchen gehört nicht zu den Fertigkeiten, die es erlernen möchte. Es ist ein bisschen ungeschickt, nicht aus Tollpatschigkeit, sondern aus Desinteresse - zerstreut und vergesslich. Wenn es Geschirr wegräumt, stellt es die Suppenschüssel zwischen die Pfannen und die Sektgläser zu den Lebensmitteln; wenn es staubsaugt, stolpert es über das Kabel, und Schlagsahne schlägt es so lange, bis Butter draus geworden ist. . .Verzichten Sie daher lieber von vornher­ein auf des Fische-Kinds Hilfe beim Einkochen oder Bodenbürsten, und lassen Sie es statt dessen den alten Vorzimmerschrank künstlerisch bemalen oder Blu­men zu hübschen Gestecken ordnen; in derlei Disziplinen ist es Meister.
Obwohl das Fische-Kind bisweilen etwas eigenbrötlerisch wirkt, ist es den­noch kein Einzelgänger. Es wird, im Gegenteil, stets eine ganze Reihe von Freunden haben, da es gesellig ist und sich für andere interessiert. Allerdings sind es selten die wohlerzogenen Kinder aus angesehenem Haus, mit denen der kleine Fisch sich anfreundet - er hat vielmehr eine deutliche Vorliebe für etwas skurrile Typen, für Außenseiter und merkwürdige Erscheinungen. Da viele von den Freunden des Fische-Kindes - der alte Bettler an der Ecke etwa oder die Zeitungsverkäuferin vor dem Haus - mittellos sind, wird es sein Taschengeld oft für karitative Zwecke ausgeben.
Überhaupt ist es sehr großzügig. Es teilt seine Schokoladeration mit seinen - vielleicht gierigeren - Geschwistern, die ihren Anteil schon verspeist haben, borgt seine Spielsachen her, verschenkt seine T-Shirts und bietet freiwillig der ganzen Familie von seiner Geburtstagstorte an.
Bei seinen Kameraden ist der kleine Fisch beliebt, weil er so wenig neidisch, so verständnisvoll und so tolerant ist: Er versteht alles - sogar, dass Madeleine ihm seinen Tretroller nicht zurückgeben kann, weil sie nämlich noch nie einen so herrlichen Tretroller gesehen hat wie den seinen. . . Bisweilen tendieren Spiel­kameraden dazu, das Fische-Kind, dem jedwede Kampfeslust abgeht, komman­dieren und unterdrücken zu wollen. Es wird ihnen selten wirklich glücken - der Fisch hat, wie gesagt, schon in jungen Jahren ein ausgeprägtes Talent, man­gelnde Aggressivität durch meisterliches Sich-Zurückziehen und Ausweichen zu ersetzen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass das Fische-Kind keinerlei Hilfestellung von Ihnen braucht. Im Gegenteil: Sie werden ihm oft den Rücken stärken müssen. Es ist empfindlich und sensibel, liebesbedürftig und hat viel Anerkennung nötig. Fische-Kindern muss man Wärme und Geborgenheit geben. Sie sind nicht ro­bust, sie brauchen das Gefühl, dass jemand zu ihnen hält und für sie da ist.
Keinesfalls sollten Sie das Fische-Kind spöttisch oder ironisch behandeln. Es ist überaus empfindlich und leicht zu kränken. Ein raues Wort - und schon schwimmt es in Tränen: Ist man hingegen freundlich und zärtlich zu ihm, be­dankt es sich durch Anhänglichkeit und umgängliche Heiterkeit.
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