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Hab ich gerade entdeckt ... 1

Der kleine Junge mit den Flügeln
von Jacques Taravant
Vor langer, langer Zeit als Gott gerade mit der
Schöpfung fertig war,
aber die Vögel, Insekten und Schmetterlinge noch
keine Flügel hatten,
lebte ein kleiner Junge.
Seine Stupsnase war so rund wie eine Murmel,
seine Wangen so zart wie Rosenblätter,
sein Kraushaar so schwarz wie die Nacht
und seine Augen so hell wie die Sterne.
Mit einem Korb auf dem Rücken lief er über Berge
und Felder,
durch Wälder und Schluchten, an Straßen und
Flüssen entlang
und sang dabei dieses Lied:
Flügel, Flügel, schöne Flügel
Wer will fliegen?
Holt euch Flügel!
Ich hab Flügel, schöne Flügel
Wollt ihr fliegen?
Hier sind Flügel!
Es war ein Junge wie alle anderen
und doch nicht wie die anderen.
Niemand kannte seinen Namen,
niemand wußte woher er kam.
War er vielleicht früh morgens einem Blütenkelch
entstiegen?
Oder war er um Mitternacht auf einem Mondstrahl
zur Erde geglitten?
Oder vielleicht bemerkte Gott,
daß er vergessen hatte, Flügel zu verteilen
und entsandte den kleinen Jungen, seine Schöpfung
zu vollenden?
Er trug einen Korb auf dem Rücken, der niemals
leer wurde,
genau wie der Sack des St. Nikolaus.
In diesem Korb waren aber keine Spielsachen,
sondern er war voller Flügel jeder erdenklichen
Art:
spitze, scherenförmige Flügel für die Schwalben,
weiße, flaumige Flügel für die Tauben,
zart schimmernde Flügel für die Libellen,
Bisherige Antworten

Hab ich gerade entdeckt ... 2

winzige, hauchdünne Flügel für die Mücken,
hölzerne Flügel für die Windmühlen.
Der kleine Junge verteilte seine Flügel überall.
Er gab sie allen, die fliegen wollten:
Adlern und Kolibris, Marienkäfern und Geiern,
Papageien und Spatzen.
Und während er mit seinem Korb voller Flügel immer
weiter wanderte,
sang er auch immer wieder sein kleines Lied:
Flügel, Flügel, schöne Flügel
Wer will fliegen?
Holt euch Flügel!
Ich hab Flügel, schöne Flügel
Wollt ihr fliegen?
Hier sind Flügel!
Er war ein richtiger Flügelhändler,
und doch kein Händler wie die anderen.
Nie verlangte er etwas für seine Flügel.
Jeder bedankte sich so, wie er konnte:
Die Nachtigall erfand eine neue Melodie.
Der Spatz, der nicht singen konnte,
drehte sein Köpfchen leicht zur Seite
und nickte ein paarmal besonders freundlich.
Die Amsel zwitscherte ihm ein fröhliches Lied.
Der Storch nahm ihn mit auf einen abenteuerlichen
Flug
hoch über die Wolken hinaus bis in die Nähe der
Sonne.
Der Dompfaff zwinkerte ihm zu,
und die Eule rief: "Uhuu, Uhuu !"
Das Marienkäferchen brachte ihn zum Lachen,
indem es mitten auf seiner runden Stupsnase
landete
und ihn mit seinen winzigen Füßchen kitzelte-
und "psst", schon war es wieder weg.
Der Papagei, der sprechen konnte, sagte:
"Ich dank dir, sie passen!"
Die Fliege summte glücklich um ihn herum,
bevor sie auf und davon flog.

Hab ich gerade entdeckt ... 3

Der Täuberich, der sich freute, daß er den
Taubendamen imponieren konnte,
plusterte stolz seine neuen Flügel und gurrte
"Dankeschön".
Bald hatten alle Vögel und Insekten rund um die
Erde ihre eigenen Flügel,
und mit denen fliegen sie heute noch.
Eines Tages, müde vom vielen Wandern,
setzte sich der kleine Flügelhändler neben eine
alte, verlassene Windmühle.
Ihre Flügel waren zerbrochen und konnten sich
schon lange nicht mehr im Winde drehen.
Einsam und traurig stand sie auf einem kleinen
Berg.
Manchmal weinte sie.
"Komm herein, komm in meine Tenne und ruh dich
aus,"
sagte sie zu dem kleinen Flügelhändler.
"Sie ist staubig, aber sie ist warm,
und wenn du bei mir bist,
bin ich nicht so einsam."
Der kleine Flügelhändler legte sich in der Tenne
auf ein Bündel Stroh und schlief die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen schenkte er der kleinen
Windmühle zum Dank vier neue Flügel:
einen roten, einen blauen, einen gelben und einen
grünen Flügel.
Überglücklich begann sie ihr Rad zu drehen,
zuerst langsam und dann schneller und schneller
wie früher, vor langer, schon fast vergessener
Zeit.
Ein Müller auf einem Weizenfeld sah es von weitem,
packte seine Garben und rannte zur Windmühle
hinauf.
Und der kleine Flügelhändler wanderte weiter.

Hab ich gerade entdeckt ... 4

Als er am Fuß des Berges ankam,
drehte er sich noch einmal um und rief:
Auf Wiedersehn, kleine Windmühle!
Mahle dein Korn, kleine Windmühle
Mahle, mahle, mahl es fein!
Aber das viele Wandern machte den kleinen
Flügelhändler müde und müder.
Eines Abends stellte er seinen Korb unter eine
große Eiche und schlief sofort ein.
Während der Nacht kam ein mächtiger Sturm.
Es war ein gehässiger Wind, der Lüfte alleine
beherrschen wollte,
er war schon lange eifersüchtig auf die vielen
Flügel, die der kleine Junge verteilte.
Als er den Korb sah, wirbelte er ihn mit seiner
ganzen Kraft so lange durch die Luft,
bis er mit allen Flügeln im Meer versank.
Seit diesem Tag haben die Wellen bei hohem Seegang
weiße Kronen.
Das sind die Flügel, die sich aus dem Wasser
befreien und wegfliegen möchten.
Als der kleine Flügelhändler am nächsten Morgen
aufwachte,
suchte er verzweifelt nach seinem Korb!
Bitterlich weinend wanderte er ziellos umher
und dachte an all die Vögel und Insekten,
denen er nie mehr würde Flügel schenken können.
Ganz erschöpft setzte er sich letztendlich mitten
in ein Feld voller Mohnblumen.
Eine kleine schwarze Raupe sah ihn dort
und war so bewegt von seinem Kummer,
daß sie ihn zu trösten versuchte:
"Sei nicht traurig, denk nicht an die Flügel, die
du verloren hast.
Denk an all die Flügel, die du verschenkt hast!
Denk an all die Vögel und Insekten, die dank dir
jetzt fliegen können!

Re: Hab ich gerade entdeckt ... 5

Bitte, mir zuliebe, weine nicht mehr!
Schau mich an, schau wie häßlich ich bin, und ich
weine trotzdem nicht!"
"Wie freundlich du bist, Raupe,"
antwortete der kleine Flügelhändler,
"dir zuliebe will ich nicht mehr weinen.
Oh, wenn ich doch bloß ein paar Flügel für dich
hätte!
Die schönsten Flügel würde ich dir schenken-Flügel
so schön wie eine blühende Blume."
Da flüsterte eine Mohnblume, die mitgehört hatte:
"Pflück mich, kleiner Junge.
Nimm meine Blütenblätter, sie werden perfekte
Flügel für deine Raupe sein!"
Der kleine Flügelhändler strahlte
und nahm sorgfältig zwei Blütenblätter von der
Mohnblume.
Er legte sie auf den Rücken der schwarzen Raupe
und schon flatterte sie dankend vor ihm
und flog dann weiter von Blume zu Blume.
So wurde die kleine häßliche Raupe zum ersten
Schmetterling -
zauberhaft schön, wie eine blühende Blume!
Noch am selben Abend legte sich der müde kleine
Flügelhändler neben einen Bach
und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Er schlief und schlief.
Tausende von Vögeln, Libellen und Schmetterlinge
setzten sich zu ihm
und warteten bis er aufwachen würde.
Die Nachtigall sang ihre schönste Melodie,
die Amsel zwitscherte fröhliche Lieder,
der Papagei redete auf ihn ein, das kleine
Marienkäferchen kitzelte seine Stupsnase,
die Eule rief: "Uhuu" .
Doch was immer sie auch taten,
der kleine Flügelhändler schlief weiter.

Hab ich gerade entdeckt ... 6

Auf einmal fand eine neugierige Elster in seiner
Hosentasche zwei kleine, weiße Flügel,
die er dort aufbewahrt und vergessen hatte
und die vom gehässigen Wind nicht gefunden und
weggetragen wurden.
Jetzt waren es die Vögel,
die dem schlafenden Jungen Flügel auf den Rücken
legten.
Da rührte er sich.
Mit einem leichten Flügelschlag schwang er sich,
von seinen Freunden, den Vögeln, begleitet,
in die Lüfte und stieg gegen den Himmel empor.
Als Gott hoch oben durch eine sonnenbeschienene
Wolke den kleinen Flügelhändler auf sich zufliegen
sah,
entschied er sich, auch noch ENGEL zu erschaffen.

Re: Hab ich gerade entdeckt ... 6

Gott ist das schön - ich heule schon wieder...
Nicole

Re: Hab ich gerade entdeckt ... 6

hallo!
geht mir auch so, berührt mich ganz tief im herzen.
glg eine heulende simone

Re: Hab ich gerade entdeckt ... 1

Hallo!
Da kriege ich eine Gänsehaut!! Ist wirklich wunderschön!!!
LG Sabina mit Marie (17+3)

Re: Hab ich gerade entdeckt ... 1

Das ist ja wirklich schön. Danke, fürs Reinsetzen in dieses Forum....
Silke
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