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GUTE NACHT GESCHICHTE: Zum Herbstanfang

Im Schutze der Nacht, tief drinnen im stockfinsteren Nadelwald, sitzt Hektor auf einem Steinhaufen und blickt sehnsüchtig auf das alte, etwas windschiefe Hexenhaus, das sich anlehnungsbedürftig an eine hochgewachsene Tanne schmiegt. Aus einem Fenster bahnt sich warmes Kerzenlicht den Weg nach draußen und erobert sich so ein Stückchen Dunkelheit.
Hektor ist ein Gnom und wohnt in einer Zwergensippe tief unter der Erde. Die Zwerge, man nennt sie auch "die kleinen Leute", sind sehr fleißige und geschickte Handwerker, sie hüten die verborgenen Schätze der Erde und beaufsichtigen die Entwicklung von Gesteinen, Mineralien und Kristallen. Zu ihren Aufgaben gehört es ebenfalls, Blumen und Bäume zu hegen und zu pflegen, und jedes Jahr im Frühling haben sie ihre liebe Mühe, die Lebenskräfte der Pflanzen erneut zu wecken. Sie beschützen die Tiere und bewahren die Geschöpfe des Waldes vor drohendem Unheil. Neben all der vielen Arbeit genießen sie jedoch auch die schönen Seiten des Lebens und sind Vergnügun-gen aller Art sehr zugetan. Sie musizieren und tanzen für ihr Leben gern. Man sagt, daß an Orten wo diese Wesen getanzt haben, das Gras saftiger und grüner wächst als anderswo. Bevor ich die Geschichte jedoch von Anfang an erzähle, muß ich noch erwähnen, daß die Gnome in reinen Bruderschaften, also ohne Frauen, leben.
Es war in einer warmen Maiennacht und der volle Mond stieg gerade über dem nach Waldmeister duftenden Forst auf, als Hektor mit seinen Freunden, lustig und gutgelaunt, den Hain durchstreifte. Zur gleichen Zeit war auch Gwendolin unterwegs. Gwendolin ist eine junge, wunderschöne Hexe und wohnt in der besagten, etwas windschiefen Behausung. Sie wollte die laue Nacht nutzen, um die ersten Frühlingskräu-ter zu sammeln. Viele Zauberpflanzen besitzen nur zu diesem Zeitpunkt magische Kräfte. Die Kirchturmuhr vom benachbarten Dorf zeigte eben den Eintritt in die zwölfte Stunde, als Hektor und seine Freunde Gwendolin bemerkten.
Ihre feuerroten Haare fielen ihr in dichten Locken über die blassen Schultern, als sie sich zur Erde beugte, um ein Feenkraut zu pflücken. Der Mondschein verdichtete sich um ihre zarte Gestalt zum Glanz und um Hektor war es ab diesem Moment geschehen. Er hatte noch nie in seinem ganzen Leben - und das dauerte immerhin schon 371 Jahre - ein so anmutiges und bezauberndes Wesen gesehen, das bis ins kleinste Detail vollkommen war. Dem Zauber der Liebe verfallen, wurden seine Knie weich, seine Gedanken fuhren Karussell und drehten sich nur noch um sie - Gwendolin, Gwendolin, Gwendolin ...
Aber jetzt begannen die Probleme, denn - ich glaube, ich erwähnte es schon - Gnome leben in reinen Männersippschaften, und bei ihnen wurde noch nie ein weibliches Wesen gesichtet. Hektors bisheriges, in ruhigen Bahnen verlaufendes und den Gesetzen des Jahreskreises folgendes Zwergenleben wurde kräftig durcheinander gewirbelt.
Ab sofort verharrte er Nacht für Nacht auf dem besagten Steinhaufen und hoffte inbrünstig, Gwendolin wiederzusehen. Tagsüber muß er arbeiten und hatte daher keine Zeit ihr nahe zu sein. In seiner Verliebtheit überhäufte er seine Angebetete mit kleinen Aufmerksamkeiten, die er heimlich vor ihre Tür legte. Mal war es ein kleiner Edelstein, eine Wurzelschnitzerei, ein lieblich duftender Veilchenstrauß oder er malte mit Pfeilen durchbohrte Herzen in den weichen Waldboden. Jedoch fand er einfach nicht den Mut, sie anzusprechen, denn er war leider sehr, sehr schüchtern. Er hatte keine andere Wahl, als geduldig auf den berühmten Zufall zu warten - und heute sollte er für seine Ausdauer belohnt werden.
Der Tag hatte sich schon nach Westen geneigt und Hektor lag bequem in einem weich gepolsterten Moosbett, nicht weit von ihrem Haus entfernt. Mit einemmal öffnete sich leise knarrend die Holztür der Hütte. Gwendolin fand in dieser schwülen Sommernacht keinen Schlaf und es gelüstete sie, noch etwas unterm Sternenzelt spazieren zu gehen. Und es kam, wie es kommen sollte. Ihre Blicke trafen sich. Das Lächeln, das sie ihm schenkte und die Reinheit der Begegnung, brachten seinen Puls zum Rasen. Hektor sah sich am Ziel seiner unausgesprochenen Träume. Er versank in ihren smaragdgrünen Augen und beide Herzen schlugen im Gleichklang. Sie erkannten in ihrem Gegenüber den lang ersehnten Seelenzwilling, und ihrem Höhenflug in rosarote Sphären stand nichts mehr im Wege. Für die frisch Entflammten bahnte sich eine wunderschöne Zeit an. Ihre Liebe begann unendlich leise, rücksichtsvoll, gut und klar, so daß bald zwei Einsamkeiten einander schützten, hielten und vertrauten. Er bettete sie, einen nicht endend wollenden heißen Sommer lang, auf Rosen und trug sie auf seinen starken Händen durch die Nacht. Obwohl sie aus verschiedenen Welten kamen, erschufen sie sich einen gemeinsamen Himmel. Aber niemand, wirklich niemand, durfte von ihrem Honigmond erfahren, denn - ich glaube ich erwähnte es schon - Gnome entbehren für gewöhnlich der Liebe und der Frauen.
Der Wald legte sein buntes Kleid an und bald schon trug der Wind die ersten Blätter fort. Der Herbst zog ins Land. Sorglos, unbeschwert, glücklich und bis über beide Ohren verliebt, erledigte Gwendolin ihre täglichen Pflichten, trocknete Heilkräuter, brachte die Ernte ein und sorgte für einen ausreichenden Wintervorrat. Die Augenblicke ausschließlicher Zweisamkeit, in der unbegrenzten Weite der Nacht, gaben ihr Kraft. In ihren Tagträumen malte sie sich aus, wie schön es sein würde, mit Hektor gemütlich vor dem Kaminfeuer zu sitzen, der Duft von süßem Honigkuchen und Anisplätzchen läge in der Luft und das alte Gebälk der kleinen Hütte würde wohlig ächzen. Sie konnte sich diesen Illusionen hingeben, denn sie wußte nicht, wie zerbrechlich und vergänglich ihr geliehenes Glück war. Hektor hatte bisher noch nicht den Mut gefunden, ihr darzutun, daß Gnome den Winter über unter der Erde verbringen. Dieser Umstand hatte rein praktische Gründe, denn es ist einfach zu kräfteraubend für die "kleinen Leute", die gefrorenen Erdschichten zu durchbrechen. Er vermied es, ihr zu gestehen, daß sie für eine lange, lange Zeit getrennt sein würden. So verstrichen die Wochen und Gwendolin blieb ahnungslos. Es war Mitte November, als die ersten Nachtfröste einsetzten. Die Tage vergingen immer schneller und deshalb wollte Hektor heute Nacht endlich all seinen Mut zusammennehmen, und mit seiner Geliebten sprechen. Das hatte er sich jedenfalls ganz fest vorgenommen.
Die Gnome hatten vor Wintereinbruch immer sehr viel zu tun. Futtervorräte für die Waldtiere mußten angelegt, die Schätze der Erde und die Wurzeln der Bäume frostsicher verpackt werden. Hektor schuftete schon den ganzen Tag ohne Unterlaß und noch immer war kein Feierabend abzusehen. Es schneite seit den frühen Morgenstunden in dichten Flocken und der Wind fegte bitterkalt durch den Nadelwald. Der Boden begann zu frieren. Alles Hoffen und Bangen war vergebens. Die Zeit drängte und Hektor mußte die ganze Nacht ohne Pause durcharbeiten. In seinen Gedanken war er bei seiner über alles geliebten Gwendolin. Der eisige Wind blies immer stärker, die Erde gefror mehr und mehr, so daß es beim Anbruch des neuen Tages kein Durchkommen mehr gab. Zu spät, Hektor konnte Gwendolin nicht mehr erreichen und ihr die bittere Wahrheit gestehen. Auch die ärgsten Vorwürfe änderten nichts an der Tatsache, daß er seine Geliebte bis zum nächsten Frühling nicht mehr sehen würde.
Die Dinge nahmen ihren gewohnten Lauf und niemand ahnte etwas von seinen unsäglichen Qualen. Der Zwergenchef hielt seine jährliche Ansprache und bedankte sich bei den Gnomen für die ausgezeichnete Arbeit, die sie im vergangenen Jahr verrichtet hatten. Er erhob sein Glas und wie in jedem Jahr wurde anschließend ausgelassen gefeiert. Alle waren höchst vergnügt, sangen, tanzten und hatten ihren Spaß, nur Hektor saß verzweifelt in einer düsteren Ecke und bekam von dem lustigen Treiben nichts mit. Seine Sonne hatte sich verdunkelt. Trauer umklammerte mit festem Griff seine unglückliche Seele und er durchlitt die schlimmsten Qualen seines Lebens. Er wußte, daß die Flut seines Schmerzes für Monate nicht mehr verebben würde.
Gwendolin wartete unterdessen jeden Abend vergeblich auf ihren Hektor und war verzweifelt und tieftraurig darüber, daß er nicht mehr kam. Sie war in großer Sorge, daß ihm etwas Schreckliches zugestoßen sein könnte, denn ihre unermüdliche Suche blieb erfolglos. So irrte sie, wie jeden Tag, durch das tief verschneite Gehölz und klagte dem Wind ihr unglaubliches Leid. Der Mittelpunkt ihres Lebens war aus ihrem Herzen gerissen worden und sie wähnte ihre große Liebe für immer verloren. Bittere Tränen weinend und vor Kummer gebeugt, setzte sie sich erschöpft auf die knorrigen Wurzeln einer alten Eiche. Der mächtige Baum beherbergte viele Tiere des Waldes, unter anderem wohnte hier auch Nat. Nat ist ein Eichhörnchen und weiß um die Dinge. Gwendolin tat ihm unendlich leid. Es hatte das Häufchen Elend schon seit einiger Zeit beobachtet und fühlte den unermeßlichen Kummer der armen Hexe.
Auf einmal vernahm Gwendolin ein Rauschen im Gezweig und ein Schauer rieselte durch den alten Baum, als Nat behende den Stamm herunter hüpfte. Es scheute sich nicht und nahm geradewegs auf ihrer Schulter Platz. Mit leiser und beruhigender Stimme erzählte das Eichhörnchen die alte Kunde, daß Gnome im Winter ausschließlich unter der Erde leben und erst wieder mit der Frühlingssonne ans Tageslicht kommen. Die Hexe hörte atemlos, was Nat zu berichten hatte und ihr Herz wurde ruhig. Jul stand vor der Tür und schon rüstete sich die versunkene Sonne zur Wiedergeburt.
Sie bedankte sich tausendfach bei dem gütigen Tier und ihr Herz durchlebte einen Sturm der Gefühle. Denn eins ist sicher: Die Erde dreht sich und die Frühlingshoffnung aller erfrorenen Blumen wird sich erneut erfüllen.
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