Die Spinnerin am Kreuz
Wenn die Trommler durch Wien ziehen und ihre Botschaften verkünden, verheißt das meist nichts Gutes. An jenem Tag vor über 700 Jahren bricht für eine junge Frau ganz besonders großes Leid aus. Die Boten des Herzogs Leopold haben verkündet, daß junge Männer für den Kreuzzung gegen die Türken, die das Heilige Land erobert hatten, gesucht werden, und ihr Mann, der sie erst vor einer Woche zum Altar geführt hat, meldete sich sofort. Nun sitzt sie da und näht ihm das rote Kreuz aufs Gewand, wobei ihre dicken Tränen auf den Stoff tropfen.
Drei Wochen später wird zum Aufbruch geblasen. Die Frau begleitet ihren Mann noch bis zum Wienerberg, wo ein schlichtes Holzkreuz steht, von dem aus man weit übers Land in den Süden sehen kann. Dort verabscheiden sich die beiden voneinander.
"Hier will ich bleiben und so lange auf dich warten, bis't wieder z'Haus kommst", verspricht ihm die Frau.
Er denkt nicht weiter über ihre Worte nach, hat nur noch den Feldzug im Kopf. Die junge Frau setzt sich am Fuße des Kreuzes nieder und blickt ihrem Gatten noch lange nach. Erst, als die Dämmerung hereinbricht, kehrt sie heim.
Am nächsten Morgen sitzt sie wieder unter'm Kreuz am Wienerberg. Da sie nun selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen muß, hat sie sich einen Spinnrocken mitgenommen. Während sie dort sitzt und spinnt, wandern ihre Gedanken weit fort ins fremde Land, wo ihr Mann das Heilige Land erobert.
Tag für Tag vergeht. Die Menschen vom Wienerberg, die anfangs versuchen, die Frau zu überreden doch zu Hause zu spinnen, haben sich längst an ihren Anblick gewöhnt. Bei jedem Wetter findet sie sich ein und bleibt so lange, daß sie die Stadt stets kurz vor Toschluß erreicht. Gerne kaufen sie ihr die Gespinste ab und geben ihr oft mehr, als sie dafür verlangt. Bald nennt man sie "die Spinnerin am Kreuz".
Sie hat viel Zeit zum Nachdenken. So kommt ihr die Idee, das alte Holzkreuz durch ein schöneres ersetzen zu lassen. Eines aus Stein! Und wenn dies fertig wäre, dann würde auch ihr Mann zurückkommen - dessen ist sie sich ganz sicher!
Sie begibt sich zum Meister Knab, der ihr ein paar schöne Entwürfe vorlegt. Einer gefällt ihr besonders gut. Eine hohe, zierliche Steinsäule zeigt das Bild. Meister Knab nennt den Preis.
"So viel hab ich nicht", seufzt sie traurig. "Grad' einmal die Hälfte."
"Das macht nichts", sagt Knab, der von der "Spinnerin am Kreuz" gehört hat und sehr wohl weiß, wer da vor ihm sitzt. "Wir fangen einstweilen zum Bauen an und Ihr gebt mir den Rest nach und nach."
Die junge Frau ist einverstanden. Nun weiß sie, wofür sie arbeitet.
Von da an spinnt sie noch eifriger, während neben ihr die Steinmetze die Säule bearbeiten. Der Staub macht ihr nichts aus, auch die Herbststürme und der Winter nicht, der ins Land zieht und die Felder mit Schnee bedeckt. Den Vorüberziehenden scheint es sogar, als wäre die "Spinnerin am Kreuz" jetzt wesentlich fröhlicher als früher.
Nach einem Jahr ist die Säule fertig.
"Jetzt kommt er heim", sagt die Frau immer wieder zuversichtlich zu jenen, die bei ihr vorbeischauen, um ihr etwas abzukaufen. Niemand traut sich ihr zu erzählen, wie schlecht die Lage im Heiligen Land steht. Die Menschen halten sie für verrückt, denn nur das kann die Erklärung dafür sein, daß sie unbeschadet den zweiten und auch den dritten Winter am Fuße der Säule spinnend übersteht.
Drei Jahre sind vergangen. Die "Spinnerin am Kreuz" wartet immer noch, blickt täglich in den Süden.
Da! - Sie kann es nicht fassen!
Eine riesige Staubwolke bewegt sich auf Wien zu.
"Da kommen sie!" ruft sie. "Kommt alle her! Sie kommen heim!"
Ihre Schreie, die nicht verstummen wollen, holen die Menschen herbei und blitzschnell geht die Kundschaft bis hinein nach Wien. Viel Volk, besonders Mädchen und Mütter, strömen auf den Wienerberg.
Wirklich! Die Kreuzzügler kehren heim!
Bald können sie die ersten Shilouetten im Staub erkennen, bald fallen sich die ersten überglücklich in die Arme. Sie ziehen an der Frau vorbei - doch ihr Mann ist nicht dabei!
Als sich der Staub gesenkt hat und der Weg in den Süden wieder menschenleer vor ihr liegt, sinkt sie schluchzend auf die Stufen der Säule nieder und hadert mit ihrem Schicksal, daß Gott ihren Gatten im fernen Land umkommen ließ. Lange liegt sie da, bis sich der Tag zu Ende neigt und die Sonne den Horizont berührt.
Endlich rappelt sie sich auf, um ihr Spinnrad zu nehmen und nach Hause zu gehen, da sieht sie in der letzten Dämmerung einen Mann auf Krücken gestützt mühsam die Straße heraufwanken.
"Den frage ich nach dem Verbleib meines Mannes", denkt sie sich. "Und wenn er tot ist, will ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren."
Sie geht langsam und gebrochen auf den hageren Mann mit dem langen Bart und den langen, verfilzten Haaren zu und will gerade zu sprechen beginnen, da hebt er den Kopf und sie kann sein bleiches Gesicht sehen. Er blickt sie an. Plötzlich beginnen seine fahlen Augen zu leuchten.
"Mein Schatz!" sagt er leise mit Tränen in den Augen und ihre Worte beim Abschied fallen ihm wieder ein. "Hast du hier wirklich die ganze Zeit auf mich gewartet?"
"Ja!" flüstert sie. "Ich bin so froh, daß du lebst. Gott sei's gedankt!"
Dann fallen sie sich in die Arme.
"Entschuldige, daß ich dich so lang' warten hab lassen", sagt er. "Ich kam in Gefangenschaft und konnte wegen meiner Verletzung den anderen icht so schnell folgen."
"Jetzt bist du da", erwidert sie. "Und nichts soll uns mehr trennen."
Ganz langsam, aber lachend und überglücklich gehen sie in der Dunkelheit nach Hause.
Bald wissen alle Menschen in Wien, daß der Mann der "Spinnerin am Kreuz" heimgekehrt ist. Die beiden leben noch lange und glücklich bis an ihr Ende. Nichts, aber auch gar nichts kann sie je wieder trennen.
LG Samira ~ 117 Tage ~
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